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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0210

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4 Klassifikation psychischer Störungen

4.1 Aufgaben und Ziele der Klassifikation

Warum brauchen wir eine Klassifikation psychischer Störungen? Klassifikationen psychischer Stö-
rungen zielen auf eine Ordnung und Systematik dieser Erscheinungen ab. Sie dienen einmal der
Strukturierung psychopathologischer Phänomene, zum anderen erlauben sie die Zuordnung ei-
nes Falles zu einer Klasse und damit der Diagnosestellung. Klassifikationen sind deshalb eine we-
sentliche Grundlage für Indikationsstellung, Prognose, Behandlung und Forschung sowie für Ent-
scheidungen von Krankenversicherungen, der Rechtsprechung, der Epidemiologie, der Planung
und Gestaltung der Gesundheitsversorgung usw. Zugleich sind die Gefahren nicht zu unterschät-
zen, die durch fehlerhafte Klassifikationssysteme oder ihre mißbräuchliche Verwendung entstehen
können.

Einwände gegen eine Klassifikation und Diagnostik psychischer Störungen sind von
vielen Seiten vorgebracht worden, und sie sind zweifellos gewichtig: Diagnose und
Klassifikation würden von der Beachtung der Gesamtheit der Person und ihrer indivi-
duellen Eigenart ablenken und Einzelmerkmale unzulässig in den Vordergrund stellen;
andererseits würden sie zu einer plakativen Kennzeichnung einer Person führen, was
durch die sozial negative Bewertung einer Stigmatisierung gleichkommt. Zudem seien
die Klassifikationen für Behandlungsentscheidungen von geringem Nutzen, trügen we-
nig zur Prognose der weiteren Entwicklung von Störungen bei und seien selbst von er-
fahrenen Experten nur unreliabel zu handhaben.

Diese Einwände weisen auf gravierende Probleme der Klassifikation psychischer
Störungen und ihrer Anwendung hin. Es ist daher eine entscheidende Frage, wie die
Vielfalt der klinisch-psychologischen Erscheinungsweisen sinnvoll, nützlich und zuver-
lässig untergliedert werden kann und wie gleichzeitig die genannten Gefahren möglichst
ausgeschlossen werden können. Der Verzicht auf eine wissenschaftlich fundierte Klas-
sifikation wäre schließlich auch keine Lösung, da an ihre Stelle alltagssprachliche Be-
zeichnungen und Kategorien treten würden, die den gleichen Gefahren unterliegen.

Die Versuche, psychische Störungen nach einfachen oder komplexen Kriterien zu
klassifizieren, sind so alt wie die Psychiatrie und die Klinische Psychologie selbst. In ei-
nem Literaturüberblick aus dem Jahr 1967 wurden bereits über 50 verschiedene Systeme
genannt (Zubin, 1967). Besonders verbreitet sind Bemühungen, die Vielfalt psychischer
Störungen nach nur einem einzigen Einteilungsgrund zu ordnen. Dafür sollen hier drei
Beispiele erwähnt werden:

In der ersten Auflage ihres Lehrbuches der Psychiatrie und Psychotherapie gingen Dörner & Plog (1978,
1996) von einer anthropologischen Sichtweise aus und stellten die Subjektivität des Menschen in den
Mittelpunkt. Sie griffen den gemeinsamen Wortstamm von „Krankheit" und „Kränkung" (die ety-
mologische Bedeutung ist „Schwachwerden", „Straucheln") auf und teilten ein in „Selbstkränkung" (u.a.
Depression, Schizophrenie), in „Beziehungskränkung" (u.a. Neurose, Psychosomatik, Suizid, Sucht), in
„Körperkränkung" (u a organische Psychosyndrome) und „Lebensalterkränkung" (Geronto-, Kinder-,
Jugendlichen-Psychiatrie).

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