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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0259

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4.6 Abschließende Diskussion

4.6 Abschließende Diskussion

Am Ende dieses Kapitels über die Klassifikation lassen sich einige Fragen und Probleme, die auch
gelegentlich schon in anderen Zusammenhängen aufgetreten sind, noch einmal unter neuen Ge-
sichtspunkten diskutiert.

Dazu gehört die Frage, welche Störungen in eine Taxonomie psychischer Störugnen aufgenommen
werden sollen und welche nicht. Darüber hinaus werden auch Probleme der inneren Struktur der
Taxonomien, der Abgrenzbarkeit und Reinheit von Störungsklassen, Möglichkeiten störungsspezifi-
scher Diagnostik, sowie Probleme der häufigen Revision der Klassifikationssysteme besprochen.

Welche Störungen gehören in eine Taxonomie psychischer Störungen und welche
nicht? Beeindruckend ist das Spektrum der Störungen, die in die Klassifikationssysteme
aufgenommen worden sind. Sie reichen vom organischen Psychosyndrom nach Schädel-
hirntrauma (F07.2 in der ICD-10) bis zu Trance und Besessenheitszuständen (F44.3 in
der ICD-10), spezifischen Phobien vor Höhen (Akrophobie), geschlossenen Räumen
(Klaustrophobie) oder Tieren, dissoziativer Amnesie (F44.0 in der ICD-10: Erinnerungs-
verlust für wichtige, kurzzeitig zurückliegende Ereignisse), Störungen durch Tabak-Miß-
brauch (F17 in der ICD-10) und Schlafwandeln (F51.3 in der ICD-10) (für DSM-IV vgl.
Widiger & Trull, 1991). Die Heterogenität der Erscheinungen macht es unmöglich, ein-
deutige Aufnahmekriterien für das System zu formulieren. Dabei ist für einige der Kate-
gorien besonders umstritten, ob sie als psychische Störungen aufgeführt werden sollen,
da diese Einordnung sozial diskriminierend (z.B. „psychische und Verhaltensstörungen
in Verbindung mit der sexuellen Orientierung"; „prämenstruelle dysphorische Störung")
oder beispielsweise maßgeblich von Rahmenbedingungen abhängig ist (z.B. „Mangel
oder Verlust von sexuellem Verlangen"). Dabei kann sich mit dem Stärkegrad der Be-
einträchtigung durch eine psychische Reaktion auch die Bereitschaft verändern, sie als
psychische Störung aufzufassen (vgl. die Differenzierung zwischen „depressiver Stim-
mung", „depressives Syndrom" und „depressiver Störung" bei Jugendlichen: Compas,
Ey & Grant, 1993). Ähnliche Probleme stellen sich bei der Abgrenzung von Persönlich-
keitseigenschaften und Persönlichkeitsstörungen (<=> 3.3.1) sowie bei der Bewertung von
sozialen und kulturellen Einflüssen, beispielsweise bei „Anpassungsstörungen".

Probleme der inneren Strukturierung. Das Fehlen einer übergreifenden Störungstheo-
rie macht sich am meisten in der Uneinheitlichkeit der inneren Struktur der Taxonomien
bemerkbar. Die Einteilungen erfolgen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten und
wechseln selbst innerhalb einzelner Kategorien. Dabei spielen Ätiologie, Prognose, le-
bensgeschichtliche Entwicklung, soziale Bedingungen, Erscheinungsweise, Verlauf,
Stärkegrade und weitere Aspekte eine Rolle. Ätiologische Bedingungen sind z.B. für die
Einteilung der organischen psychischen Störungen maßgeblich, während für die Dia-
gnose der Intelligenzminderung der Stärkegrad der Beeinträchtigung herangezogen wird.
Beim DSM-IV ist zudem das Verhältnis der Achsen zueinander theoretisch ungeklärt: Es

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