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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0258

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4 Klassifikation psychischer Störungen

Zur Diskussion. Die in der Untersuchung berichteten Ergebnisse beziehen sich auf die klinische
Praxis in psychiatrischen Einrichtungen; inwieweit sie auf andere Settings übertragbar sind, ist zu
prüfen. Außerdem wäre es wünschenswert gewesen, daß die Daten auch statistisch ausgewertet
werden. So bleibt man bei der Interpretation der Ergebnisse gezwungen, sich auf die Bewertung von
Eindrücken zu beschränken.

Unter diesen Einschränkungen lassen sich jedoch folgende Tendenzen ableiten:
„Organische, einchließlich symptomatischer psychischer Störungen" (FO) und „Störungen durch psy-
chotrope Substanzen" (F1), also solche diagnostischen Kategorien, die am eindeutigsten mit
körperlichen Auffälligkeiten verbunden sind, erscheinen den untersuchten Klinikern leichter zu
handhaben und angemessener für die klinische Realität. In diesen Kategorien stimmen die Operatio-
nalisierungen der Störungen mit dem Bild der Kliniker von den Störungen überein. Außerdem können
sie „organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen" (FO) am klarsten von den
restlichen Kategorien der ICD-10 unterscheiden.

Am problematischsten erscheinen die Kategorien „neurotische, Belastungs- und somatoforme
Störungen" (F4) und die „Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen" (F6); die diagnostischen
Kriterien dieser Störungsgruppen, die traditionell den neurotischen Störungen zugerechnet werden,
erscheinen den Klinikern in der psychiatrischen Praxis vergleichsweise schlecht handhabbar. In den
diagnostischen Beurteilungen sind sie eng mit anderen Störungen assoziiert und werden im unter-
suchten Setting schlecht an Hand der vorgegebenen Kriterien identifiziert.

Insgesamt ermittelten Feldstudien zum Gesamtsystem der „diagnostischen Leitlinien"
der ICD-10 gute Übereinstimmungskoeffizienten (Kappa über .80; Sartorius, 1994).
Einhellig am schlechtesten waren die Beurteilerübereinstimmungen bei den Persönlich-
keits- und Verhaltensstörungen (F6), am höchsten bei den „Verhaltensauffälligkeiten mit
körperlichen Störungen und Faktoren" (F5: Eßstörungen, Schlafstörungen, sexuelle
Funktionsstörungen u.a.). Für die besser operationalisierten „Forschungskriterien" der
ICD-10 wurden Werte nahe an k = .90 erzielt. Die höchsten Übereinstimmungskoeffi-
zienten erhielten bei den Forschungkriterien (k > .90) die Kategorien Intelligenzminde-
rung (F7), Entwicklungsstörungen (F8), Verhaltens- und emotionale Störungen mit Be-
ginn in der Kindheit und Jugend (F9), Verhaltensauffälligkeiten mit körperlichen Stö-
rungen und Faktoren (F5) sowie psychische und Verhaltensstörungen durch psychotrope
Substanzen (Fl).

Auch für die klinische Praxis ließe sich die Güte der gegenwärtigen Taxonomien noch
wesentlich verbessern, wenn dazu nicht nur die Informationen aus mehr oder weniger
sytematischen Befragungen und gelegentlichen Beobachtungen herangezogen würden.
Zur Verbeserung kommen insbesondere die Verfahren der klassiflkatorischen Diagno-
stik in Frage, die bereits vorgestellt wurden. Außerdem sollten diese formalisierten Ex-
pertensysteme ergänzt werden durch die standardisierten Verfahren, mit denen die
Klienten selbst befragt werden (Kap. 6.3 in Band II).

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