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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0222

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4 Klassifikation psychischer Störungen

4.3 Die moderne Klassifikation psychischer Störungen

Seit Beginn der 80-er Jahre ist eine erstaunliche Öffnung gegenüber klassifikatorischen Ansätzen
festzustellen. Das hängt sicher vor allem mit der Bereitschaft zusammen, sich von übergeordneten
theoretischen Vorgaben zu lösen und kritische Konzepte wie das Krankheitskonzept, die Annahme
der Krankheitseinheit für psychische Störungen und strittige ätiologietheoretische Annahmen aufzu-
geben. Für den Erfolg dieser Bemühungen war aber auch entscheidend, daß die Klassifikationssy-
steme vereinfacht wurden, daß enorme Anstrengungen zur genauen Operationalisierung der dia-
gnostischen Kategorien unternommen und daß in sehr viel stärkerem Maße die Behandlungsmög-
lichkeiten für die Taxonomie berücksichtigt wurden.

Dieses Kapitel enthält vier Abschnitte. Zunächst werden wir die historische Entwicklung der heu-
tigen Klassifikationssysteme darstellen (<=> 4.3.1). Anschließend behandeln wir die beiden ge-
bräuchlichsten klassifikatorischen Systeme, die ICD-10 und das DSM-IV (•=> 4.3.2 und 4.3.3). Zuletzt
werden wir uns dann mit dem Vergleich und der Kritik beider Systeme beschäftigen (<=> 4.3.4).

4.3.1 Historische Entwicklung

Historisch hat seit den 80-er Jahren eine immer stärkere Vereinheitlichung und Interna-
twnalisierung der Klassifikationssysteme stattgefunden. Durch die internationale Ab-
stimmung sollten vergleichbare Informationen über Verteilungen und Auftreten von Er-
krankungen in verschiedenen Ländern gesammelt werden, um daraus Rückschlüsse auf
die Gesundheitsversorgung, die Wirksamkeit von Behandlungsansätzen und möglicher-
weise auch auf ursächliche Bedingungen zu ziehen. Diese sicherlich begrüßenswerten
Absichten haben allerdings dazu geführt, daß nationale Bemühungen und Systematisie-
rungen allmählich in ihrer Bedeutung abgenommen haben - was zugleich die Bedeutung
soziokultureller Faktoren reduzierte und das Klassifikationssystem gegenüber Verände-
rungen aufgrund neuer Erkenntnisse schwerfälliger werden ließ. Dabei gewannen zwei
Ansätze immer größere Bedeutung, die internationale Klassifikation (ICD) der Weltge-
sundheitsorganisation sowie das Diagnostische und Statistische Manual (DSM) der
American Psychiatric Association. Beide Systeme wurden wiederholt überarbeitet und
kamen zwischen 1948 und heute in neuen Revisionen heraus, die fortlaufend numeriert
wurden.

Die internationale Klassifikation von Krankheiten der WHO basiert auf Arbeiten, die
bereits im Jahr 1853 aufgenommen wurden und gleich nach Gründung der WHO im
Jahre 1948 zu der Herausgabe einer „International Statistical Classification of Disea-
ses, Injuries and Causes of Death" führte. Die vorangegangenen internationalen Klas-
sifikationen wurden numeriert, so daß die erste von der Weltgesundheitsorganisation
verabschiedete Liste (1948) als ICD-6 erschien (zur historischen Entwicklung: Kendell,
1978). In diesem Jahr wurde auch erstmals in der Geschichte dieses Systems ein eigenes
Kapitel V über „geistige, psychoneurotische und Persönlichkeitsstörungen" aufgenom-

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