4.2 Grundbegriffe und Arten der Klassifikation
Zur Diskussion. Nach Cantor et al. (1980, p. 184) löst die prototypische Sichtweise
„alle Probleme, die die klassische (nosologische) Sichtweise geplagt haben", da
* keine notwendigen und hinreichenden Merkmale für die Definition der einzelnen
Klassen, sondern lediglich korrelierende Merkmale bestimmt werden müssen,
* Grenzfälle zwischen den Klassen und
* heterogene Zusammensetzungen innerhalb der Klassen zulässig sind,
* unterschiedliche Grade des „Typisch-Seins" angegeben werden können und
* eine perfekte hierarchische Ordnung (jeder Angehörige einer Untergruppe muß alle
Merkmale einer höheren Klasse aufweisen) nicht mehr notwendig ist.
Daraus ergibt sich auch, daß sämtliche Merkmale des Prototyps mindestens einige Mit-
glieder der zugehörigen Kategorie charakterisieren sollten, während andererseits keines
der einzelnen Merkmale zur Begründung der Klassenzugehörigkeit notwendig und hin-
reichend ist. Zweifellos entspricht die typologische Sicht der Taxonomie psychischer
Störungen inhaltlich wesentlich besser als die kategoriale Sicht, und auch die empirische
Bewährung des Systems erscheint unter diesem Blickwinkel befriedigender (•=> 4.5).
Außerdem ermöglicht sie das Erfassen noch nicht voll ausgebildeter Störungen, bei-
spielsweise von Vor- oder Zwischenstadien eines depressiven Zustandsbildes. Die mo-
dernen Klassifikationssysteme sind von ihrem Ansatz her als typologische Systeme zu
bezeichnen, die durch dimensionale Systematiken ergänzt werden^ 4.3).
Dennoch bleibt bei diesem Ansatz unbefriedigend, daß die typologische Konzeption
oft eingesetzt wird, um deskriptive, nicht an eine bestimmte Theorie gebundene
(„atheoretische") Systematiken zu entwickeln. Dabei schleichen sich mit dem tradierten
Störungswissen der Kliniker implizite diagnostische Theorien, Stereotype und Vorurteile
ein, die als solche nicht ausgewiesen sind. Ein weiterer Nachteil typologischer Konzepte
liegt in der Frage, welche Bedeutung uneindeutige Fälle oder Mischtypen haben. Die
einzelnen Typen sollten, um möglichst trennscharf zu sein, durch eine geringe Binnen-
varianz bei großer Varianz zwischen den Kategorien gekennzeichnet sein. Die Häufig-
keitsverteilung der Merkmale sollte also zwischen den Klassen „Seltenheitspunkte" auf-
weisen; auf einer eindimensionalen Skala würde das bi- oder polymodalen Verteilungen
entsprechen. Mit anderen Worten wird erwartet, daß sich Mischformen mindestens an-
hand eines Merkmals relativ eindeutig einem Typus zuordnen lassen. Tatsächlich aber
ließ sich diese Erwartung bisher bei keiner einzigen psychischen Störung überzeugend
bestätigen (Kendell, 1978).
Schließlich führen typologische Taxonomien häufig zu einer erheblichen Heterogeni-
tät innerhalb einer Klasse. Nehmen wir als Beispiel die oben genannte Definition der
„leichten depressiven Episode": zwei Klientinnen, die diese Diagnose erhalten haben,
brauchen lediglich in einem der drei Hauptkriterien (depressive Stimmung, Interessens-
verlust oder erhöhte Ermüdbarkeit) übereinzustimmen; in allen anderen Definitions-
merkmalen können sie sich voneinander unterscheiden! Die Heterogenität innerhalb ei-
ner Klasse wird also um so größer, je mehr Wahlmöglichkeiten der Kriterienkatalog zu-
läßt.
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Zur Diskussion. Nach Cantor et al. (1980, p. 184) löst die prototypische Sichtweise
„alle Probleme, die die klassische (nosologische) Sichtweise geplagt haben", da
* keine notwendigen und hinreichenden Merkmale für die Definition der einzelnen
Klassen, sondern lediglich korrelierende Merkmale bestimmt werden müssen,
* Grenzfälle zwischen den Klassen und
* heterogene Zusammensetzungen innerhalb der Klassen zulässig sind,
* unterschiedliche Grade des „Typisch-Seins" angegeben werden können und
* eine perfekte hierarchische Ordnung (jeder Angehörige einer Untergruppe muß alle
Merkmale einer höheren Klasse aufweisen) nicht mehr notwendig ist.
Daraus ergibt sich auch, daß sämtliche Merkmale des Prototyps mindestens einige Mit-
glieder der zugehörigen Kategorie charakterisieren sollten, während andererseits keines
der einzelnen Merkmale zur Begründung der Klassenzugehörigkeit notwendig und hin-
reichend ist. Zweifellos entspricht die typologische Sicht der Taxonomie psychischer
Störungen inhaltlich wesentlich besser als die kategoriale Sicht, und auch die empirische
Bewährung des Systems erscheint unter diesem Blickwinkel befriedigender (•=> 4.5).
Außerdem ermöglicht sie das Erfassen noch nicht voll ausgebildeter Störungen, bei-
spielsweise von Vor- oder Zwischenstadien eines depressiven Zustandsbildes. Die mo-
dernen Klassifikationssysteme sind von ihrem Ansatz her als typologische Systeme zu
bezeichnen, die durch dimensionale Systematiken ergänzt werden^ 4.3).
Dennoch bleibt bei diesem Ansatz unbefriedigend, daß die typologische Konzeption
oft eingesetzt wird, um deskriptive, nicht an eine bestimmte Theorie gebundene
(„atheoretische") Systematiken zu entwickeln. Dabei schleichen sich mit dem tradierten
Störungswissen der Kliniker implizite diagnostische Theorien, Stereotype und Vorurteile
ein, die als solche nicht ausgewiesen sind. Ein weiterer Nachteil typologischer Konzepte
liegt in der Frage, welche Bedeutung uneindeutige Fälle oder Mischtypen haben. Die
einzelnen Typen sollten, um möglichst trennscharf zu sein, durch eine geringe Binnen-
varianz bei großer Varianz zwischen den Kategorien gekennzeichnet sein. Die Häufig-
keitsverteilung der Merkmale sollte also zwischen den Klassen „Seltenheitspunkte" auf-
weisen; auf einer eindimensionalen Skala würde das bi- oder polymodalen Verteilungen
entsprechen. Mit anderen Worten wird erwartet, daß sich Mischformen mindestens an-
hand eines Merkmals relativ eindeutig einem Typus zuordnen lassen. Tatsächlich aber
ließ sich diese Erwartung bisher bei keiner einzigen psychischen Störung überzeugend
bestätigen (Kendell, 1978).
Schließlich führen typologische Taxonomien häufig zu einer erheblichen Heterogeni-
tät innerhalb einer Klasse. Nehmen wir als Beispiel die oben genannte Definition der
„leichten depressiven Episode": zwei Klientinnen, die diese Diagnose erhalten haben,
brauchen lediglich in einem der drei Hauptkriterien (depressive Stimmung, Interessens-
verlust oder erhöhte Ermüdbarkeit) übereinzustimmen; in allen anderen Definitions-
merkmalen können sie sich voneinander unterscheiden! Die Heterogenität innerhalb ei-
ner Klasse wird also um so größer, je mehr Wahlmöglichkeiten der Kriterienkatalog zu-
läßt.
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