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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0184

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3 Definition psychischer Störungen

3.2 Normen und Werte

Wir haben im vorangehenden Abschnitt gesehen, daß psychische Störung nicht unabhängig sind
von sozialen Bewertungen und Konventionen. Vielmehr werden sie in vielfältiger Weise geprägt
durch sozialen Normen und Werte, die auch einem gesellschaftlichen Wandel unterliegen. Welche
Normen dabei eine Rolle spielen und wie sie in die Definition psychischer Störungen einwir-
ken, ist Gegenstand dieses Kapitels: Dabei werden wir uns den Beitrag von statistischen Normen
(•=> 3.2.1), von sozialen, idealen und subjektiven Normen (<=> 3.2.2) sowie von funktionalen Normen
(& 3.2.3) genauer ansehen.

Aufbauend auf den Erkenntnissen zu den Funktionen der verschiedenen Normen für psychische
Störungen wird abschließend eine Definition psychischer Störungen aus der Sicht der Allge-
meinen Klinischen Psychologie vorgeschlagen. Mithilfe der inhaltlichen Grundsätze des Allgemei-
nen Klinischen Modells {'=>2.3) soll dazu beigetragen werden, daß sich der Leser eine konzeptge-
leitete Auffassung für die Problematik der Definition psychischer Störungen erarbeiten kann (<=>
3.2.4).

Ein formales und allgemeines Kennzeichen psychischer Störungen ist ihre Abweichung
von bestimmten Erwartungswerten, die als Sollwerte, Standards oder auch - sofern ein
Toleranzspielraum vorgesehen ist - als Normbereiche bezeichnet werden können. Die
Sollwerte enthalten in der Regel sowohl einen deskriptiv-statistischen Anteil, der sich
auf die Häufigkeit und Wahrscheinlichkeit eines Verhaltens bezieht (deskriptive Norm
oder Seinsnorm), als auch einen präskriptiv-wertungsbezogenen Aspekt, nach dem die
Verhaltensauffälligkeiten einer sozialen und subjektiven Bewertung unterzogen werden
(präskriptive Norm oder Wertnorm). Beide Anteile treten bei der Definition gestörten
Erlebens und Verhaltens oftmals vermischt auf (vgl. Brandstätter, 1977), so daß die ana-
lytische Trennung dieser Begriffe für den klinisch-psychologischen Gegenstandsbereich
praktisch sehr erschwert ist. Außerdem lassen sich noch verschiedene Arten von Bezugs-
punkten heranziehen, die zu unterschiedlichen Normbegriffen führen; im einzelnen sol-
len hier statistische Normen, soziale, ideale und subjektive Normen sowie funktionale
Normen behandelt werden (vgl. Gorenstein, 1992; Hofstätter, 1957; Wetzel, 1980).

3.2.1 Statistische Normen

Die Häufigkeit oder Auftretenswahrscheinlichkeit einer Verhaltens- und Erlebensweise
ist die Grundlage einer statistischen Normdefinition: Als „normal" wird definiert, was
innerhalb eines bestimmten Bereiches um den Modalwert variiert, während extreme Ak-
tivitäten als „abweichend" erscheinen (deskriptiv-statistische Herangehensweise). An-
ders als die anderen Menschen zu sein oder von diesen als anders wahrgenommen zu
werden, bedeutet häufig schon eine erhebliche Belastung für die Person. Der statistische
Ansatz stellt damit eine wichtige Basis für die Beurteilung von psychischen Auffällig-

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