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Bastine, Reiner [Hrsg.]
Klinische Psychologie (Band 1): Grundlegung der allgemeinen klinischen Psychologie — Stuttgart, Berlin, Köln, 1998

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https://doi.org/10.11588/diglit.16129#0393

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5.3 Psychologische Störungstheorien

fizieren waren. „Bevor sie depressiv wurden, waren diese künftig Depressiven nicht durch irrationale
Überzeugungen gekennzeichnet, sie hatten keine niedrigeren Erfolgserwartungen oder höhere Miß-
erfolgserwartungen, sie attribuierten Erfolge nicht auf externe und Mißerfolge auf interne Ursachen,
noch nahmen sie sich selbst wahr, als hätten sie wenig Kontrolle über ihre Lebensereignisse« (Lewin-
sohn et al. 1981, p. 218). Allerdings beruht dieses theoretisch wichtige Ergebnis nur auf neun (!) von
letztlich 417 in die Analyse einbezogenen Personen, so daß sich eine generalisierende Interpretation
verbietet. Die Konsequenz-Hypothese konnte dagegen weitgehend bestätigt werden. Im Zuge der de-
pressiven Störung wandeln sich Selbstverständnis, Zukunftserwartung, Schuldzuschreibung und Ver-
trauen in die eigene Kontrollfähigkeit in vorhergesagter Weise. Negative Kognitionswerte der Gruppen
(a) und (b) unterschieden sich signifikant von den Werten aller übrigen Gruppen. Die Attributions-
muster jedoch waren zwischen Depressiven und Gesunden nicht eindeutig verschieden; möglicher-
weise war der verwendete Fragebogen nicht hinreichend sensibel.

Damit konnte die ätiologische Relevanz kognitiver Einstellungsmuster für depressive Störungen in
dieser Untersuchung zwar nicht gesichert werden, doch ergaben sich deutliche Hinweise auf ihre pro-
gnostische Bedeutung für den Störungsverlauf. Je stärker die negativen Kognitionen ausgeprägt wa-
ren, desto geringer war eine baldige Genesungsaussicht der Betroffenen. Das stärkt die Begründung
für die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung für depressive Störungen.
Allerdings weist die Untersuchung auch einige Schwächen auf:

- Die Repräsentativität der zum Schluß doch stark reduzierten Untersuchungsgruppe (von 20.000
ursprünglich angeschriebenen Personen konnten letztlich nur 417 untersucht werden) bewerten
auch die Autoren selbst kritisch.

- Die Gütekriterien der eingesetzten kognitiven Testverfahren werden zwar von den Autoren als
befriedigend beurteilt, jedoch wären die von den Theorieschöpfern selbst konstruierten und er-
probten Verfahren den in der Studie verwendeten Fassungen vorzuziehen gewesen. So wurden
z.B. die von Seligman als zentral angesehenen Attributjonsmuster unangemessen operationali-
siert. Nach Beck sind die negativen Kognitionen einer Person nicht jederzeit präsent, sondern
werden erst durch Streß energetisiert. Nach Auslösebedingungen wurde in dieser Studie offenbar
nicht systematisch geforscht.

- Die Besetzung der theoretisch wichtigsten Gruppe der Ersterkrankten ist mit neun Personen be-
denklich gering.

5.3.4 Emotionale Störungstheorien

„Emotionale Störung" ist ein oft verwendetes Synonym für psychiatrische Syndrome
(Oatley & Jenkins, 1992), da psychische Störungen fast immer mit emotionalen Auffäl-
ligkeiten einhergehen und beide Begriffe deshalb im Alltagsgebrauch oft identisch ver-
wendet werden. Diese Gleichsetzung ist allerdings nicht unproblematisch, weil emotio-
nale Prozesse bei psychischen Störungen in ganz unterschiedlicher Weise beteiligt sind.
Eindeutig ist die emotionale Dysfunktion vor allem bei drei Gruppen psychischer Stö-
rungen:

(1) Affektive Störungen bezeichnen beeinträchtigende Veränderungen der Stim-
mung oder der Affektivität, die meistens hin in Richtung auf Depression (mit oder
ohne begleitender Angst), seltener in Richtung auf eine überhöhte Stimmungs-

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