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Heft 9.

Das Buch für Alle.

207



„Ich mache darauf aufmerkſam, daß eine ſolche die
ſchwerſten Folgen nach ſich ziehen müßte, deren Ver-
antwortung ich denen überlaſſe, die es unternommen
haben, dieſe Begegnung herbeizuführen. Ü

Es entstand eine lange, peinliche Pauſe.

„Ich sollte doch meinen ~ begann endlich die

Generalin in einem vermittelnden Tone, und Carmen,
obgleich verſchüchtert und unsicher, unterstützte dieſe so-
fort, indem sie sagte:

„Lieutenant Mandrito hat im Hauſe meiner Eltern
verkehrt, noch ehe an die obwaltenden Umstände, von
denen Sie sprechen, Galvän, zu denken war. Ich sehe
nicht ein, weshalb er das jetzt nicht mehr thun ſFoll.“

„Es iſt darüber kein Wort zu verlieren, “ bemerkte
Galvän kurz und wegwerfend; „es könnte höchstens
nur noch empfohlen werden, sich die ſchweren Folgen,
von denen ich ſprach, zu vergegenwärtigen. Wenn Sie
die Verantwortung übernehmen wollen, Carmen, so
kann ich um ſo ruhiger der Begegnung entgegensehen.
Schon der Umstand, daß Sie den Lieutenant Man-
drito eingeladen haben, könnte mich stutzig machen und
U Me „ru aber h pi dies.
handelt haben. “ ! §

Die Lage wurde immer peinlicher für die Damen,
besonders weil keine von ihnen wußte, was ſie eigent-
lich wollte. Sie hatten ohne feſtes Ziel, ohne be-
stimmte Absicht gehandelt. Galvän hingegen wußte
ganz qu. ros er wollte, und trat infolgedessen auch
energiſch auf.

„Es könnte den Anſchein haben,“ fuhr er nach

einer kleinen Pauſe fort, „als ob ich es wäre, der
einen Zwiſt mit dem Lieutenant Mandrito wünſchte.
Das iſt nicht der Fall. Ich würde doch dann nicht
auf eine Begegnung aufmerksam machen, die zu ſolchem
führen muß, fondern im Gegenteil alles thun, um ihn
herbeizuführen. In Wahrheit iſt mir dieſer Herr nach
der letzten Züchtigung, die ich ihm habe zu teil wer-
den laſſen, eine vollständig gleichgültige Person, die
erſt wieder Bedeutung für mich erlangt, wenn sie meine
Wege kreuzt. Gelüſtet Sie es, Carmen, nach dieſen
Erklärungen derartige Anzettelungen zu unternehmen,
ſo wiſſen Sie nun, unter welchen Umständen das ge-
ſchieht. Ausweichen werde ich ſolchen Begegnungen
natürlich nicht.“
_ Carmen wußte ſehr wohl, daß Galvän ein guter
Fgüte war. der nur ſelten ſein Ziel fehlte. Sie
itterte leicht.
Ö „Ich lt.. man ſchreibb dem Herrn unter diesen
Umſständen mit irgend einer Ausrede ab, “ ſuchte Frau
Muùoz den Streit beizulegen. „Du kannst ja ein Un-
wohlſein vorſchützen, Carmen, oder irgend ein Vorhaben,
das dich vom Hauſe fernhält. Es giebt ja. hundert
Ausreden für solche Fälle.“

Carmen ſagte nichts, auch die Generalin hüllte sich
in LÜzreigen. Der Zwiſchenfall ſchien damit erledigt
zu sein. . :



Neunzebntes Kapitek.

Am nächſten Morgen ſtand Carmen ungewöhnlich
zeitig zum Ausgehen angekleidet vor ihrer Mutter. Es
war noch nicht einmal elf Uhr, eine Stunde, zu der
die Madrider Damen im allgemeinen noch nicht zu
sprechen ſind. Carmen hatte eine ſehr elegante Toilette
gemacht, und wenn das bei einer jungen Dame im
Brautstand auch nichts Ueberraſchendes iſt, so machte
ihre Mutter doch ein ziemlich verblüfftes Gesicht.

„Wohin willst du denn?“" fragte sie erstaunt.

„Zur Tante,“ erwiderte ſie einſilbig.

„Aber um diese Zeit? Die Tante wird noch nicht
zu sprechen ſein. “ ;

„O doch. Ich habe ihr geſtern ſchon davon gesagt. “

Sie log. Die Generalin hatte keine Ahnung von

dem ihr zugedachten Beſuch, zu dem Carmen ſich jeden-
alls erſt über Nacht entſchloſſen hatte.
„Was wuillſt du denn o zeitig dort?“

„Wir wollen in die Ausſtellung gehen.“

„Jn die Kunſstausſtellung? Aber, mein Gott, ich
weiß gar nicht, wie du plöylich zu einem ſolchen Kunst-
intereſſe kommst. Ich habe noch nie bemerkt, daß du

Für Bilder auch nur die geringſte Neigung hättest. “

„Es ſind fehr ſchöne Bilder dort, Mama. Und
dann ~ es iſt ja zum Beſten der Kinderaſyle. Weißt
du das nicht? Alle Welt geht hin.“ :

„Hm! Haſt du den Kutſcher beſtelltté Du wirſt
doch nicht zu Fuß “

„Nein. Der Wagen wartet ſchon. Du erlaubst

doch, Mama?"
t J nun, wenn du mit der Tante hingehſt, warum
; tent sig? fuhr in dieſem Augenblick der Wagen an
_ der Gartenterraſſe vor.

„Auf Wiederſehen, Mama!“ sagte Carmen und

hauchte einen Kuß auf die Wange ihrer Mutter.
„Adiós, mein Kind! Komm nicht zu spät zurück.“
Carmen ging. Als ſie einstieg, hörte ihre Mutter,



die auf dem oberen Treppenabſatz stand, wie sie dem
Kutscher zurief :

„Nach der Carrera de San Jéronimo Nr. 211.“

Das war die Wohnung der Generalin Veresßo.
tgl. Muñoz kehrte beruhigt in das Frühſtückszimmer
zurück.

Eine kleine Viertelſtunde ſpäter hielt der Wagen
hit Carmen vor- dem bezeichneten Hauſe, und ſie
ſtieg aus.

„Warten Sie, “ sagte ſie zu dem Kutſcher. Dann
ging sie in das Haus hinein und die Treppen hinauf.

„Iſt meine Tante noch zu Hauſe?* fragte sie die
Dienerin, die ihr öffnete.

„Za, Señorita, fie iſt aber noch in ihrem An-
kleidezimmer. “ .

„Wollen Sie ihr sagen, daß ich sie erwarte und
ſehr notwendig mit ihr zu sprechen hätte?“

„Sie haben nur zu befehlen. Bitte, treten Sie

indeſſen ein.“
_ Carmen trat in den Salon und wartete. Sie stand
Uh Uſr tt ul Hutter gef os g14t4e sen
ſie wohl nur wenig davon. Ihre Augen hatten einen
so ſtarren, nachdenklichen Ausdruck, daß man ihr sofort
ansah, sie ſei weniger mit dem beſchäftigt, was um
ſie herum vorging, als mit dem, was ſie ſelbſt bewegte.
Sie hatte die ganze Nacht kein Auge geſchloſſen, hatte
viel geweint und fühlte sich so unglücklich, wie ein
junges Mädchen in ihrer Lage sich nur fühlen konnte.
Das herriſche Auftreten ihres Bräutigams am Abend
vorher hatte ihr die Augen geöffnet. Niemals in ihrem
Leben hatte sie eine ſolche Sprache gehört. Weder ihre
Eltern noch ſonst jemand hatten sie jemals ſo vollständig
als Null betrachtet und behandelt, wie Galvän gestern
abend. Wenn er das jetzt ſchon ſo machte, was ſollte
erſt geſchehen, wenn sie seine Frau war?

Sie fühlte ſchon an dieſem Auftreten instinktiv, daß
er ſie nicht liebte. Ueberhaupt ſchärften sich ihre Augen
Ut U rs TIE at tr§etu t zoccala tus
ſie ſich doch, daß jemand, der seine Braut wirklich liebt,
niemals in dieſer Weiſe gegen sie auftreten würde.
Auch wenn ſie einen Fehler gemacht . hätte – wovon
ſie noch gar nicht überzeugt war ~, so mußte er eine
andere, beſſere Art finden, sie zu verbeſſern, als dieſe.
Er spiegelte ihr alſo nur vor, sie zu lieben, und hatte
besondere Abſichten mit ihr, die er ihr nicht ſagte.
Das Mißtrauen, das ſich auf dieſe Weiſe in ihr ent-
wickelte, wuchs sich raſch und gründlich zu einem wahren
Abscheu aus. Seit gestern, seit sie Lieutenant Man-
drito wiedergeſehen hatte, wußte sie, daß sie Galvän
nicht liebte, nie lieben konnte. Er hatte ſie getäuſcht
~ sie wußte nicht, aus welchen Nebenabſichten, war
aber gleichwohl darüber empört. (

Dazu kam noch die Drohung, die er gegen Lieute-
nant Mandrito ausgeſtoßgen. War Carmen ſchon un-
tröſtlich darüber, daß sie das erſte Duell in ihrem
jugendlichen Leichtſinn nicht verhindert hatte, wie sie
es wohl gekonnt, so war sie jetzt um so mehr ent-
schloſſen, ein zweites zu verhüten. Damals ſtand ſie
zu Lieutenant Mandrito noch nicht so wie heute. Heute
wäre sie vor Angſt geſtorben, wenn sie ihn wieder so in
Gefahr gewußt hätte wie damals. Sie mußte alſso
die Einladung von gestern rückgängig machen und
wollte das nun mit Hilfe ihrer Tante in der offensten

orm thun. :
ß ""e Gott, Carmen,“ hörte sie plötzlich die
Stimme ihrer Tante hinter sich, „was iſt denn los?
Ich habe mich noch nicht einmal gepudert, und du biſt
schon da. Was giebt's denn?“

Sie drehte ſich langſam um. JIhre Augen glänzten
feucht, wie von Thränen.

„Madrid wird nicht einfallen, Tante, wenn du dich
einmal nicht puderſt. Ich komme, um dich abzuholen,“
sagte ſie mit sonderbar wehmütiger Stimme.

„Himmliſcher Vater, wie du ſprichſt! Die Welt
würde mich für eine alte Frau halten, wenn ich mich
nicht puderte. "

„Das thut nicht weh. Komm immerhin.“

„Aber wohin willst du mich denn ſchleppen ~ bei
nachtſchlafender Zeit ?“

Es war mittlerweile faſt halb zwölf Uhr geworden.
ji „Du weißt es doch, Tante. Wir müſsen zu Señor

andrito. . .

î „Ach so. Wegen des Briefes ?“

Carmen wurde über und über rot und ſah auf-
geregt zum Fenster hinaus.

„Aber nein, nicht wegen des Briefes, ſondern wegen
der Einladung von gestern.“

„Hm! Haſt du denn nicht abgeſchrieben? Deine
Mutter sagte doeh – ~"

„Wie kann ich denn? Würde er nicht denken, daß
ich es wäre, die ihn nicht zu sehen wünſcht?“

„Du brauchst ja nur zu sagen, daß du krank ſeieſt. “

JAber ich bin ja gesund. Weshalb denn lügen?“

„Du biſt wohl – ~

„So komm doch endlich! Ich weiß gar nicht, wozu

du so viel Worte machſt. Raſch, ich will dir helfen



Toilette machen. Der Wagen wartet unten. Wo iſt
hr g Wo iſt deine Mantilla? Haſt du ſchon
tiesel an?" .

„Nun sei sſo gut und nimm dir Zeit. Vengiß
nicht, daß wir in Spanien ſind, wo alles Zeit hat,
alles. Verſtanden?“

Ziemlich erstaunt beobachtete die Generalin, wie
Carmen mit einer ungewöhnlichen Lebhaftigkeit und

Haſt bald das, bald jenes herbeitrug, um ihrer Tnte _

bei der letten Vervollſtändigung ihrer Toilette zu
helfen. Es ſchien ihr, als wenn ſie gar nicht mehr
nötig gehabt hätte, einen Einfluß in bestimmter Rich-
tung auf ihre Nichte auszuüben. Das kam jetzt plöyh-
lich qu von ſelbſt und viel ſtärker, als sie je ver-
mutet hätte.

, ja, das Herz,“ dachte die Generalin ſeufzend,
„wenn es achtzehn Jahre alt iſt)i Es wirkt nicht nur
Wunder, es iſt ſelbſt ein Wunder."

Endlich gingen sie. Senor Mandrito wohnte in
derſelben Straße. Wenige Minuten ſpäter waren ſie
dort. Die Dame empfing den Beſuch ziemlich über-
raſcht. Früher, als die Generalin noch alle Tage kam,
hätte sie es weniger überraſchend gefunden, wenn auch
Carmen einmal mitgekommen wäre, aber jetzt, nach

dem ſo viel dazwischen lag und die Generalin sich ſet

Wochen nicht mehr hatte sehen laſſen, war dieſer Be-
ſuch doch ungewöhnlich und mußte eine besondere Ver-
anlaſſung haben.

Carmen blieb verlegen hinter ihrer Tante, als
wolle sie diese ins Vordertreffen ſtellen, that so unschuldig
und harmlos wie möglich, konnte aber doch ihre Un-
ruhe nicht verbergen. Ihre Augen gingen mit einer
Aufregung und Haſt überall herum, als ob sie etwas
ſuche und nicht finden könne.

„Und wo iſt er denn?" fragte die Generalin ziemlich
unvermittelt nach den erſten Begrüßungsformeln.

„Wer denn?" entgegnete Frau Mandrito verblüfft.
„Nehmen Sie nur Plat, bitte, Frau Generalin; bitte,
hierher, Señorita. Ach, Sie meinen wohl Francisco?“

„Hm, gut, meinen wir 'mal Francisco,“ antwortete
die Generalin in einer sonderbaren Weiſe. Eigentlich
hatte ſie nämlich den Strickbeutel im Sinne gehabt,
aber es ſchien ihr doch nicht recht klug, die Sache so
direkt zu verfolgen.

„Er ist doch hoffentlich gesund und wohl ~– Don

Francisco?"

„Die Madonna ſei gelobt, ja,“ antwortete Frau

Mandrito, „er befindet ſich den Umständen angemessen

gut. Nur iſt er so ſchrecklich eigenſinnig.“

„Eigenſinnig ?“ :

„Ja. Denken Sie, er will es nicht dulden, daß
ich ihn zur Poſt begleite. “

„Nicht dulden? Aber das iſt ja unerhört.“

„Er ſagt, er ſei Offizier, und die Leute fingen ſchon
an, über ihn zu sſpötteln und zu lachen, weil er nie
ohne seine Mutter ausgehen dürfe. Und ich meine es

doch so gut. Ist es nicht ſchrecklich, wenn zwei Männer

aufeinander losgehen wie zwei Kampfhähne, die auch

nicht eher ruhen, als bis der eine am Boden liegt?".

„Ach, meine Liebste, ebendeshalb sind wir ja hier.“
„Wie? Wegen Graf Galvän und – ~?
„Hören Sie nur zu, Senora Mandrito. Carmen
hat geſtern Francisco, als wir uns an der neuen Aka-
demie trafen, eingeladen für heute abend. Nun denken
Sie das Unglück. Gerade heute abend iſt auch Graf
Galvän eingeladen !“ .
„OD, mein Gott!“ :
y„HGanz gewiß hat Carmen im Augenblick nicht daran
gedacht, ſondern nur in der Freude ihres Herzens,

Don Francisco wieder geſund zu ſehen, die Einladung
ausgesprochen. Nun denken Sie ſich die Angst meiner
Nichte, wenn die beiden Kampfhähne wieder aufeinander-

stoßen! Das erſte Wort iſt wieder ein Streit. “
„Natürlich, Frau Generalin, ſelbſtverſtändlick. O,
ich kenne ihn wohl. Aber laſsſen Sie mich nur machen."“
„Sie müſsen ihn für heute zurückhalten. Ü
„Das verſteht ſich. Es wird ſich ſchon machen.
Ich werde ihm ſagen – –~
„Still! Er kommt. Hören Sie?!
Ih gar s V üs Das iſt ſein Tritt. Was iſt
nen, Señorita?
. Carmen war plötzlich auffallend bleich geworden unn
faßte mit der Hand nach dem Herzen, deſſen ungeſtümes
Klopfen sie dadurch glaubte beruhigen zu können.
„Nichts, Señora. Ich wünſchte nur, daß Sie mir
ein Glas Waſsſer geben laſſen möchten, “ liſpelte sie leise.
„Um des Himmels willen, warum sagen Sie das
nicht gleich. Sofort sollen Sie ~ ö entſchuldigen

| Sie mich. nur einen kleinen Augenblick.. Ich will

leich

ß Y Z: verließ Doñsa Joſefa den Salon. Sie mußte
gleich zurückkommen. Die Generalin ſtand raſch auf
und trat an den Knauf eines Fenstervorhanges heran,
der vermittelſt einer Schnur an einen Haken gerafft
war. An dieſem Haken hing gleichzeitig der Strick-
beutel. Sie fühlte von außen, ob der Brief noch
darin sei. Carmen sah ihr mit einer Angst zu, als
ob Tod und Leben vom nächſten Augenblick abhänge.
 
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