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210

„Da iſt er. Er iſt noch da, “ flüsterte die Generalin.

„Tante – Tante!“ rief Carmen leiſe, aber man
konnte nicht recht unterscheiden, ob dieser Ausruf ledig-
lich ein Stoß ſeufzer ihrer Bedrängnis und Aufregung
war, oder ob er eine Bitte ſein sollte, mit einem kühnen
Griff ſich in den Beſitz des ersehnten Briefes zu ſeten
~ vielleicht war es beides. .

Indessen hatte weder das eine noch das andere einen
Erfolg, denn in demſelben Augenblick kam Doña Joſefa
mit einer Karaffe friſchen Waſsſers zurück, und die
Generalin trat gleichgültig und unſchuldig thuend zum
Jenſter und sah hinaus.

Hinter seiner Mutter trat Lieutenant Mandrito ein.

„Mein Gott, was iſt geschehen?“ rief er besorgt.
„Frau Generalin, Senorita, die Ehre ~ was iſt
Ihnen?"
zy Carmen stand langſam auf und reichte ihm die
Hand, vielleicht um ihm zu beweiſen, daß er keine
Ursache habe, ſich zu beunruhigen.

„Nichts, wie Sie sehen, Herr Lieutenant,“ sagte
ſie lächelnd. „Wir sind zu Ihnen gekommen, weil ich
~ ~ weil Tante – = ich wollte ſagen & *

Es war eine wahre Erlöſung für ſie, daß in dem-
selben Augenblick Frau Mandrito mit einem Glas
Waſſer auf ſie zukam und sie so des Fortfahrens über-
hob. Sie war über sich und ihre Verwirrung, in die
ſie sein Blick verſett hatte, selbſt überraſcht. Sie hatte
ſich vorgenommen, aufrichtig und oſfen mit ihm von

' | dem Zwiſchenfall mit Galvän zu reden, wie mit einem

guten Freund, und nun ſah sie plöt.lich, daß das nicht
ging. Es war nicht nur entſetlich ſchwer, die Wahr-
heit zu ſagen, es war unmöglich. Sie würde, wenn
ſie es gethan hätte, vermutlich das erreicht haben, was
ſie eben umgehen wollte. Außerdem ſtieg es ihr bei
seinem Anblick siedend heiß zu Kopfe. Noch eben war
sie ſo unbefangen wie je gewesen, und plöglich konnte
ſie keine drei Worte mehr ſprechen.

„Wo waren Sie, Herr Lieutenant?" fragte die
Generalin. ;

Er schien die Frage nicht zu hören oder wollte sie

c hören. Er war wie vertieft in den Anblick
armens.
. !Si: wollten sagen, Señsorita Carmen?" fragte er
hartnäckig.

„Wo Sie waren, wollen wir wiſſen, Don Francisco, “
wiederholte die Generalin.

„O, ich bitte um Verzeihung, daß ich nicht gleich
. = fuhr er ſtamnmelnd auf. „Ich war auf der
Poſt, Frau Generalin. “

„So, so, auf der Poſt. Und was war da los?“

„Nichts Besonderes. Ich habe einen Brief an mein
Kommando nach Cadix aufgegeben und mich wieder
geſund gemeldet. Vermutlich muß ich bald abreiſen. “

„D! machte Carmen unwillkürlich. .

„Nach Cadix?“ fragte die Generalin.

„Das weiß ich noch nicht. Entweder nach Cadix
in das Marinebureau oder an Bord des ,Criſtobal
Colon“, der jet in Malaga liegt. Es kommt auf die
Order an, die ich erhalte.“

„Sagen Sie, Herr Lieutenant ~" begann die Ge-
neralin wieder.

Aber dieſer unterbrach sie raſch, als ob ihm eben
etwas eingefallen wäre, und ſagte: „Sie entſchuldigen,
Frau Generalin – Sesorita Carmen, haben Sie je
von einem Bruder des Herrn Grafen Galvän de Val-
verde gehört?"

„Von einem Bruder?“ wiederholte diese verwundert.
„Niemals. Der Graf hat keinen Bruder. Er iſt der

einzige Sohn seiner Eltern.“

ff y„Sonverbar!

„Weshalb? Warum fragen Sie?“

„Eben fiel mir auf der Poſt ein junger Mann auf
~ Gott weiß, was er dort zu thun hatte, er ſchien auf
jemand zu warten =, der eine verblüffende Aehnlich-
keit mit dem Grafen Galvän hatte. Ich würde ihn
unbedingt für einen Bruder von ihm gehalten haben.“
. K g Ein Zufall! Ich weiß bestimmt, daß er keinen

Bruder hat." |
: m laſſen wir's. Was wollten Sie ſagen, Frau

eusyglin ' Ich bitte um Entſchuldigung, daß ich Sie
unterbrach.

„Hm y Ich wollte wiſſen, was der ,Criſtobal
Colon“ für ein Schiff iſt. Iſt es ein großes Schiff ?“

„Eines der größten unserer Kriegsflotte, Frau Ge-
neralin. Ich habe ſchon zweimal auf ihm die Reiſe
in den indiſchen Archipel gemacht. Eines der ſtatt-
lichſten Panzerſchiſfe der Neuzeit. Uebrigens, in meinem
Arbeitszimmer liegt eine genaue Skizze des Schiffes.

_ DWenn es die Damen wünſchen und sich dafür interes-

ſieren –~

„D, bitte, bitte, Herr Lieutenant, laſſen Sie uns
das Egif sehen,“ bat Carmen raſch und ſonderbar
erregt. . ;
„Ich will die Slizze ſofort holen.“

„Rein, wir gehen mit Ihnen, " rief Carmen wieder.

„Wie Sie befehlen.“

Etwas verwundert über das plötzliche Intereſſe an
einem Kriegsſchiff, wie es Carmen jett zeigte, folgte



Da s B uch für Alle.

die Generalin den Voranſchreitenden in das Arbeits-
zimmer des Offiziers. Das war ein kleines, aber ſehr
eigenartiges Zimmer. Man sah ſofort, daß hier ein
Junggeselle hauſte. Auf dem Alrbeitstiſch, wo unter
Zirkeln, Bleiſtiften aller Farben, Zeichnungen, Zei-
tungen da und dort Zigaretten herumlagen, ſah es
kunterbunt und unordentlich aus. An den Wänden
hingen kurioſe Bilder, zum Teil aus Zeitungen aus-
geſchnitten. Auf einem Schlafsofa, das mit indiſchen
Decken und Teppichen belegt war, lag ein Windſpiel
und schlief – das Ganze ſah faſt aus wie eine Schiffs-
kabine, die aus Verſehen aufs Trockene geraten iſt.

Lieutenant Mandrito suchte einige Augenblicke unter
tt Stoß von Zeichnungen und allerhand Papieren
erum.

„Hier iſt es,“ ſagte er endlich, „vas iſt der „Criſto-
bal Eolon“. Sehen Sie, meine Damen, das iſt das
Oberdeck mit der Kommandobrücke, der Takelage, den
aufgezogenen Booten und dergleichen. Hier geht es nach
dem Geschütraum hinunter –~

„Ich habe meinen Fächer drüben liegen laſſen, “
sagte Carmen zerſtreut.

„Ich will sofort –~

„Nein, nein, nein. Bleiben Sie. Ich gehe ſelbst, “
wies Carmen die Hilfe des jungen Offiziers ziemlich
energiſch zurück; „ich bitte mir aus, daß Sie ſich nicht
stören laſſen. Ich bin gleich zurück. “

Damit war sie auch ſchon fort aus dem Zimmer.
Mit einer unglaublichen, fieberhaften Haſt lief sie nach
dem Salon zurück, den sie soeben verlaſſen hatten.
Wirklich lag auch ihr Fächer auf einem der Stühle,
aber nicht auf ihn stürzte sie sich, ſondern auf den
Strickbeutel am Fenstervorhang. Mit zitternden Hän-
den zog sie ihn auseinander. Unter all dem kleinen
Handwerkszeug der Frau Mandrito, unter Garnknäueln,
Häkelnadeln, Lockenwickeln, Nadelbüchschen, ſelbſtgeſchrie-
benen, eng zuſammengefalteten Speiſerezepten, einigen
Stückchen Siegellacé und einem kleinen Klümpchen
Wachs zum Wichſen des Zwirns lag ein Brief, deſſen
aufgeriſſener Umſchlag an Señoritàa Carmen Munoz,
Paſeo de la Caſtelana in Madrid, adreſſiert war.

Ein kleiner Schrei entfuhr ihren Lippen. Blitzſchnell
sah sie ſich um und lauſchte den Teil einer Setunde,
dann zog sie den Brief, der in dem Umſchlag lag,
heraus. Mit angehaltenem Atem las sie ihn. Jhre
Augen gingen wie im Fieber hin und her, und mit
der einen Hand faßte ſie wieder nach dem Herzen, das
U uſen Shuste von der Erregung, von dem

ück der Leserin erzählte.

Der Brief war lang und nicht ſehr deutlich, offen-
bar auch in höchſter Aufregung geschrieben.
Worte waren unterſtrichen, zwei-, dreimal. Diese
fielen ihr natürlich zuerst in die Augen. „Bis in den
Tod“ siand da mit vier Strichen, dann wieder: „Die
wahre Liebe“, „was das Herz ſagt“, und dann weiter
unten: „Gott iſt mein Zeuge“, „die Liebe des Lebens,
nicht des Augenblicks“, „das gleißende Lügenſpiel der
Phesſe! und „das unsichere, blendende, äußere Schein-
eben“.

Sie war viel zu erregt, um in all diese abgeriſſenen
Worte einen Sinn zu bringen. Endlich aber fing sie
wieder von vorn an zu leſen, und je weiter ſie las,
deſto ruhiger wurde sie; ihre Augen umflorten sich, und
ſchließlich fing ſie an zu weinen. Die Rührung über-
mannte sie. Das war die echte Sprache des Herzens,
das Stammeln der Leidenſchaſt, das Zeugnis eines
Mannes, der sie in Wahrheit liebte.

Und diesen Mann hatte sie verloren um hohlen
blinkenden Schein, hatte ihn von ſich gelaſſen in jugend-
licher Ueberſpanntheit, in kindiſcher Eitelkeit und ver-
zogenem Troy das echte Gold hingegeben für ~
eine Glaskugel, für einen hohlen Schein, der ihre
Sinne bethörte.

„Carmen !“ tönte es plötzlich ſcharf und leidenſchaft-
lich hinter ihr. :

Erſchrocken fuhr ſie herum. Da ſtand er = er,
der Schreiber dieser Zeilen, die Hand lebhaft und
zuckend ausgestreckt nach dem Brief, als wenn er da-
nach greifen, ihn ihr entreißen wolle.Ô

„Sie hier, Francisco !“ erwiderte ſie tonlos. Sie

wußte kaum, was ſie ſagte.
E „Was haben Sie da? Das iſt nichts für Sie,
armen. " : .
d u für mich? Steht nicht mein Name oben
rauf ?“ ;
„Ich beſchwöre Sie, Carmen, es iſt ein Irrtum.
Geben Sie. Leſen Sie nicht weiter. Sehen Sie nicht
ein, daß jetzt alles anders iſt? Was damals ein Glück,
iſt heute eine Sünde.“

„Francisco !“ sagte sie leiſe und innig.

„Was wollen Sie noch? Warum ſehen Sie mich
sſo an?“ rief er heiſer. ;

„Sie lieben mich nicht mehr?“

Er faßte raſch ihre Hand. .

„Wie mein Leben,“ rief er in edler Erregung,
„mehr als mein Leben. Ich gebe mein letztes Blut
für Ihr Glück. Aber nach alledem ~

„Still... Man ſucht uns. Hören Sie! Kommen

Einzelne



Heft 9.

Sie heute nicht zu uns. Ich sage Ihnen später, warum.
Morgen finden Sie mich wieder an der neuen Aka-
h gs. Hören Sie? Ich muß Sie ſprechen. "

„Carmen !“

„Kein Wort jetzt. Bei diesem Brief ſchwöre ich
!!. dei ich Ihrer bedarf, Francisco. Wollen Sie
mir helfen?“

„Eie fragen noh? Sagen Sie mir nur —"

„Später. Faſſen Sie ſich. Kein Wort jett.“

„Legen Sie den Brief an Ort und Stelle, damit
ſie nichts mertt.“ ;

„Nein, den Brief behalte ich. Er gehört mir!"

Das alles war ein Gespräch von Sekunden. Haſtig,
atemlos, ſich übersſtürzend in blinder Leidenſchaftlichkeit
hatten sie die Worte und Sätze mehr hingeworfen als
gesprochen, mehr aus den zuckenden Gesten, aus den
heißen Blicken der leuchtenden Augen erraten als ver-
ſtanden. Nun trat er keuchend und erſchöpft, mit der
Hand über die Stirn fahrend, an das Fenster und
ſah hinunter ‘auf die Straße, während sie nach ihrem
Fächer griff, ihn vom Stuhle nahm und ſich mit großen
heftigen Bewegungen Luft zufächelte. Die Generalin
und Frau Mandrito traten ein.

Es war unmöglich, die Aufregung zu verkennen, in
der sich die beiden jungen Leute befanden. Jhre Blicke

loderten, ihr Atem flog, und ihre Naſenflügel zitterten.

Die Generalin sah sofort, daß zwiſchen den beiden

irgend etwas vorgefallen ſein mußte, wenn ſie auch

nicht erraten konnte, was.

„Nun,“ sagte sie, „da iſt ja dein Fächer, Carmen.“
; „Ja, Tante,“ antwortete diese kurz und etwas klein-
aut.

„Du brauchtest ihn wohl sehr eilig, weil du gleich
head, keſch.: ich - Mir mar ſo heiß.“

„Und jetht ſcheint dir noch heißer zu ſein — trotz
des Fächers ?“

„Es ist die Luft, Tante ~

„Ja, ja, die Luft,“ ſpöttelte diese in einem mit-
leidigen Tone, als ob ſie Carmen bedauern müſſe.
Dann aber ſchien ihr doch, als dürfe ſie dem jungen
Mädchen nicht allzuſehr die Zügel ſchießen laſſen.
Weit entfernt, noch Del ins Feuer zu gießen, wie sie
es früher beabſichtigte, mußte ſie jet, um ein Unglück
zu verhüten, zu beſchwichtigen ſuchen.
keinen Fall, daß man, wie Carmen ſich vielleicht dachte,
die Schwierigkeiten wie den gordiſchen Knoten durch-

haue, mit einem Gewaltſtreich löſe. So einfach war

die Sache nicht.

„Wir wollen gehen, Carmen,“ sagte die Generalin
laut und energiſch. ,

„Wie du willst, Tante. “

Man nahm Ahſschied.

Francisco reichte der Generalin die Hand, dann
trat er auf Carmen zu.

Es fiel kein Wort weiter, aber die Blicke ſchoſſen her-
über und hinüber, wie das gewöhnlich nur bei Leuten zu
geſchehen pflegt, die sich vollständig einverſtanden wissen.
Im Korridor ſtand Carmen soeben vor einem Spiegel
und sah darin, wie Francisco ihr die Mantilla um-
hing. Sie faßte mit der einen Hand über die Schulter,
um ihm dabei zu helfen, und Franicsco benutzte ge-
schickt die Gelegenheit, um seine Lippen auf die Hand
Carmens zu drücken.

Brennend heiß fühlte sie sie einen Moment auf
ihrer Hand liegen.

„Vorsichtig!“ murmelte sie leise.

Da nutte keine Vorſicht mehr. Die Generalin
hatte es bemerkt und nahm sich vor, Carmen gehörig
ins Gewissen zu reden. Auf dieſe Weiſe konnte nur
ein Unglück entstehen, aber nicht alles zur glücklichen
Löſung gebracht werden. Galvän war nicht der Mann,
der mit sich ſpielen ließ. Gab man ihm auch noch
einen Grund zur Rache, so war der junge Offizier
und die Firma Muñsoz dazu so gut wie verloren, und
was “si noch weiter werden ſollte, das wußte kein
Menſch.

Y enant Mandrito blieb in einer Stimmung zu-
rück, die es ihm unmöglich machte, mit irgend jemand
zu reden, und ihn ſelbſt seiner Mutter aus dem Weg
gehen ließ. Er wollte nicht gefragt, nicht ausgeforſcht
sein, überhaupt nichts reden und ſchloß sich in seinem
Arbeitszimmer ein. :

Die Aussichten, die sich ihm in der kurzen Minute
des Alleinſeins mit Carmen eröffnet hatten, verſetzten
ihn in eine Aufregung, die faſt an Fieber grenzte.
Carmen liebte ihn, daran war jetzt kein Zweifel mehr.
Nur die Liebe zu ihm konnte erklären, was vorgegangen
war und – was noch kommen ſollte. Sie wünſchte
ihn zu sprechen, und zwar allein, denn sonst hätte ſie
doch heute ſprechen können. Sie hatte geſagt, daß sie
seiner bedürfe. Natürlich stand er ihr mit allem, was
er besaß, und mit allem, was er vermochte, zur Ver-
fügung bis zum Aeußerſten, bis zum Tod. Aber was
konnte sie von ihm wollen? .

Mit unruhigen Schritten ging er in dem kleinen
Zimmer hin und her. Die Aufregung ließ ihn keine
Minute ruhig sitzen. Ohne Zweifel wollte Carmen

Es ging auf -
 
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