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[9-

Sie hatte ihm durch die traurige Komödie, die sie
seit einiger Zeit spielte, soviel Vertrauen einzuflößen
gewußt, daß er vielleicht keinen Argwohn geschöpft und
E ASE
dem getroffenen Uebereinkommen gemäß hätten die
beiden Schriftstücke, die ſie ſo eng aneinander feſſelten,
alsdann vernichtet werden ſolleen. .

Sie wagte aber mit ihrem Anliegen nicht hervor-
zutreten, denn sie fürchtete, seinen Verdacht zu erregen.
War es nicht ſicherer, wenn ſie ſich des Briefes durch
Liſt zu bemächtigen ſuchte? Gelang die Liſt nicht, so
konnte sie dann ja noch immer einen letzten Verſuch
machen und das Papier direkt verlangen.

Sie veränderte ihre Lebensweiſe jeyt in mancher
Beziehung, denn während sie nach der Verheiratung
ihres Bruders wochen-, ja monatelang in Landepereuſe
verweilte, ohne nach Beuvron zurückzukehren, fand ſie
sſich jet wiederholt dort ein. Savinien hatte vielleicht in
ht? euer urftktn. wiutl bau. stthörtuenele
jede [zr freougeu zu nutze machen, um danach zu ſuchen.

Die alte Magd kümmerte ſich nicht um ihre Ge-
bieterin und um das, was dieſe that. So oft Helene
alſo nach Beuvron kam, durchſuchte ſie, wenn ihr
Vetter auswärts war, alle Zimmer, ſchloß alle Schränke
auf und durchſtöberte den kleinſten Winkel. Offenbar
hatte Savinien aber nichts zu verbergen, denn alle
Schränke standen offen, und die meiſten Schubfächer
waren leer und unbenützt. Helene gelangte bald zu
der Einsicht, daß ihr Vetter den Brief nur in ſeiner
Briefstaſche verborgen haben könne, die ihn niemals
verließ. Sie ſselbſt ging ja genau ebenſo zu Werke.

Eines Morgens trat Savinien mit beſorgter, unzu-
friedener Miene ins Zimmer. Sie ahnte nichts Gutes
und hielt ſich kampfbereit. Er zog sie mit den Worten
mit sich: „Komm ~ komm ſchnelll““

„Was werillſt du von mir?" wollte ſie wiſſen.

gte tragen ſich wichtige Dinge zu. Weißt du denn
nichts ?“

Dies geſchah einen Tag nach der Unterredung,
welche zwiſchen Martial Richardier und Noël Labarthe
stattgefunden hatte. Der erſtere war am Morgen nach



_ VPearis abgereiſt, von wo er nach Brest zu gehen be-

abſichtigte. Wenn er aus Breſt zurückkehrte, sollte das
verabredete Duell stattfinden. j

„Was ſoll ich wiſſen?“ fragte sie überraſcht und
beunruhigt.

„Es handelt sich um ein Duell,“ sagte er, und als
er helene ezhleichen sah, fügte er hinzu: „Du verſtehſt
uwiaohl ſchon?" :

„Martial und Noel hatten Streit miteinander?"

„Ganz richtig. Und ſie werden sich ſchlagen. ““

„Aber Martial iſt ja abgereiſt. “

_ „Noel wird seine Rückkehr erwarten. Sie haben
ſich dahin geeinigt. “

„Mein Gott, mein Gott!“ murmelte Helene ver-
zweifelt. „Nun wollen sie ſich sogar ſchlagen . .. und
ich bin die Ursache davon !“

„Daß einer von beiden fällt, ist gewiß. Die beiden
Jurgen Leuts g fefetv eilezlüchg aufeinander. Einer
von ihnen muß also das Feld räumen.

zAber woher weißt du denn, daß ſie sich duellieren
werden?"

„Die Sache iſt sehr einfach. Martial bedarf zweier
Zeugen, und er bat mich vor ſeiner Abreiſe, ich möchte
einer davon sein. Ich machte ihm jedoch begreiflich,
daß meine Situation Noël Labarthe gegenüber eine
äußerſt ſchwierige ſei, und ich an einer Streitſache, deren
vornehmſte Ursache ich ſelbſt war, keinen Anteil neh-
men dürfe. Martial sah das ein und gab mir die
Adressen zweier befreundeter Offiziere in Tours, die
ich in ſeinem Namen um diesen Dienſt anzugehen ver-
ſprach. Das Duell wird also ohne mich stattfinden;
ich aber besize Kenntnis davon. Und daß einer der
Gegner dabei das Leben laſſen wird, ist meine feſte
Ueberzeugung . . ." :

„Was iſt da zu thun?"

„Ich weiß es nicht und kann dir auch keinen Rat
geben; zum erstenmal in meinem Leben weiß ich ſelbſt
nicht, was geſchehen muß. Auf dieſe Wendung war
ich. nicht vorbereitet; sie ſtößt alle meine Berechnungen
über den Haufen. Fällt Martial, so sind unſere
Pläne geſcheitert. Die Sache muß irgendwie verhin-
dert werden. Für uns steht zu viel auf dem Spiel.
Das Duell darf also unter gar keinen Umständen ſtatt-
finden, –~ hörſt du?"
st g bcr was kann ich thun? Wie ſoll ich es ver-

indern?" . ;

„Das weiß ich nicht. Suche ſelbſt ein Mittel aus-

findig zu machen. In ſolchen Dingen haben die Frauen

oft die besten Jdeen. Auch du wirſt einen Ausweg
finden, ich bin überzeugt davon.“

Sie rang in ſtummer Verzweiflung die Hände,
während er ſich der Thür näherte. Hier blieb er
hehes t bemerkte: „Du hast ja vier Tage zum

achdenken. “

Plötzlich hob sie den Kopf empor. Sie war ſehr

Das B. uc Für: A lle.

Heft 28.





bleich, und ihre Augen glänzten. „Nun ja,“ sprach
sie, „ich werde dieſes Duell verhindern. “

„Du haſt ein Mittel gefunden? Laß hören,“ sagte
er, wieder zurückkommend. i

„Nein, nein; ich will in meinen Handlungen ganz
unbehindert ſein. Aber das Duell werde ich verhin-
dern; deſſen sei versichert. “

Er zögerte, und sein harter Blick, der auf Helene
gerichtet war, drückte etwas wie Argwohn aus. Sollte
ſie einen Verrat planen? Woran dachte ſie?

Offenbar erriet sie seine Gedanken, denn ſie sagte:
„Ich schwöre dir, daß sich Martial und Noel nicht
duellieren werden. Was verlangſt du noch mehr?
Das Mittel, deſſen ich mich dazu bediene, kann dir
ganz gleichgültig sein.“

Noch immer ſtand er unschlüssig, mit gerunzelten
Brauen da. Endlich meinte er achſelzuckend: „Schließ-
lich haſt du recht, und ich will dich nicht hindern. Die
Hauptsache iſt ja, daß das Duell unterbleibt. Ü

Damit ging er. Auf der Treppe blieb er indessen
nachdenklich stehen. „Sie führt etwas im Schilde,“
murmelte er, „allein was mag das ſein?“ ...

Gewiß, sie wollte dieses Duell verhindern. Zu
viel unſchuldiges Blut war bereits vergoſſen, zu viele
Verbrechen begangen worden; nein, zum drittenmal
ſollte kein Menſchenleben zum Opfer fallen. Binnen
vier Tagen mußte sie einen Entſchluß gefaßt, die volle
Wahrheit zur Kenntnis der beiden jungen Männer ge-
bracht und ihr ſchweres Opfer vollbracht haben.

Ein einziger Mann lebte, der die Umtriebe und
Verbrechen Saviniens erraten hatte; ein Mann lebte,
vor dem der Abenteurer Furcht hatte, der aber von
ihm durch einen kühnen Handſtreich aus dem Wege
geräumt worden war. Und dieser Mann war Jean
Vandale. Wohl konnte er gegenwärtig nichts gegen
den Elenden unternehmen, da er im Gefängnisse
ſchmachtete und zur Unthätigkeit verurteilt war; wie
aber, wenn er thatkräftige Hilfe erhielt?

Noch an demſelben Tage begab sie ſich, von Bringue-
taille begleitet, nach Blois, und ging sofort in das
Gerichtsgebäude, wo sie um die Erlaubnis anquchte,
Jean Vandale ſprechen zu dürfen. Die Erlaubnis
wurde ihr ohne weiteres gewährt. Der Staatsanwalt,
den man von ihrem Beſuche in Kenntnis geſetzt hatte,
erriet sofort, daß ſich außerordentliche Dinge vorberei-
teten, und voll Intereſſe harrte er derselben.

Bringuetaille war einigermaßen erstaunt über das

Gebahren der Verlobten seines Neffen; er fragte ſie,

aus welchem Grunde ſie mit dem Gefangenen ſprechen
wolle, und sie konnte ihm keine andere Antwort geben,
als daß er vielleicht ſchon in kurzer Zeit den wahren
Mörder Richardiers und Renauds kennen lernen werde;
Vandale ſei vollkommen unſchuldig. Im übrigen nahm
sie ihm das feierliche Verſprechen ab, ihren Beſuch im
Gefängnis niemand zu verraten, weder Martial, noch
Savinien, noch Margarete.

Auf dem freien Platze vor dem Gefängnis ſchritt
Bringuetaille auf und nieder, die Rückkehr Helenens
erwartend. Diese war in das Sprechzimmer geführt
worden, wo sie bereits den Gefangenen antraf, der ge-
senkten Hauptes auf einer Bank ſaß. Er war ſo tief

| in seine Gedanken verſunken, daß sich der Wärter be-

reits entfernt und die Thür hinter ſich geſchloſſen hatte,
ohne daß er den Kopf emporgehoben hätte.

Endlich rief Helene, nachdem sie einige Sekunden
vergebens gewartet hatte, daß er aufblicken werde, leiſe:

„Herr Doktor!“

Er zuckte zuſammen, hob den Kopf und erkannte
Helene. „Sie sind es?“ fragte er erſtaunt.

„Ja, Herr Vandale. Sie konnten auf den Beſuch
einer Perſon, deren Vetter Sie verhaften ließ, nicht
vorbereitet sein, zumal Sie auf dieſe Perſon auch nicht
gut zu sprechen ſind. Ich begreife das und finde Ihren
Groll vollkommen gerechtfertigt. “ ;

„Sie irren sich,“ gab er mit mißtrauiſchem Blick
zur Antwort; ,ich hege keinerlei Groll, nur eine trau-
rige, ſehr traurige Empfindung erfüllt mein Herz.“

„Sie wisſen doch,“ fuhr sie fort, „daß ich im Be-
griffe bin, mich zu vermählen.“

„Ja, das weiß ich.“

„Mit Herrn Martial Richardier. “

„Auch das weiß ich . .. mein Sohn Noël sagte es
mir. Er sagte mir auch, wie heiß er Sie liebe und
daß Sie ihn wieder liebten! ... Der arme Junge
wie sehr täuſcht er ſich da !“

Ernſt und feſt erwiderte ſie: „Er täuſcht Fich nicht,
denn ich liebe ihnn. :

Jean Vandale machte eine haſtige Gebärde der
Ueberraſchung und sagte: „Sie lieben ihn und heiraten
Martial Richardier?“

„Ich liebe ihn, werde aber weder ihn, noch Martial
eiraten. “

! „Weshalb nicht?“ 2.

„Weil ich sowohl des einen, als auch des anderen
unwürdig bin.“ i

„Dann begreife ich nicht –?“

„Bevor ich Ihnen den Sachverhalt erkläre, habe
ich Ihnen noch andere Dinge mitzuteilen. – Noël und



Martial werden sich duellieren – ich weiß es aus
sicherer Quelle. Einer von beiden wird fallen.“

Ein Schauer durchlief Vandale. Im Geiſte ſah er
bereits seinen Sohn, seinen geliebten Noel, mit durch-
bohrter Bruſt in seinem Blute auf der Erde liegen.
Mit bebender Stimme sprach er: „Und die Ursache
dieſes Unglücks sind Sie, Gräfin! Sie haben es mit
Ihrer verhängnisvollen Schönheit, mit Ihren Lünen
und geheimen Umtrieben herbeigeführt.“

„Ja, das iſt leider wahr. “

„Wozu sind Sie dann hierhergekommen? Was
habe ich Ihnen gethan, daß Sie das Bedürfnis haben,
ſich an meinem Schmerz und meinen Thränen zu er-
gößen? Verlaſſen Sie mich!“

„Ich bin gekommen,“ erwiderte sie leiſe und zu
allem entſchloſſen, „weil mir das Leben zur Laſt iſt,
weil ich des ewigen Trugs und Lugs überdrüſsig bin,
und weil mein Herz die ſurchtbaren Geheimniſſe, deren
Laſt mich erdrückt, nicht länger zu ertragen vermag.“

Jean Vandale hob den Kopf empor. Seine Augen
glänzten im Widerſchein der in ſeinem Herzen erwachen-
den Hoffnung; allein er schwieg noch. Neben der
Hoffnung regte sich auch das Mißtrauen. Wie, wenn
Helene die Mitſchuldige Saviniens war und man ihm
nur eine neue Falle legen wollte?

„Sie sollen alles erfahren, “ fuhr Helene fort, „denn
ich kann nicht länger schweigen, noch warten. Auf mich
allein angewieſen, könnte ich die Personen, die ich
liebe, nicht retten – mit Ihrer Hilfe wird es mir
vielleicht gelingen. Ü

„Die Personen, die Sie lieben?“

„Vor allem Noël, den ich um so heißer liebe, als
meine Liebe hoffnungslos ist, und dann Martial, den
ich wie einen Bruder liebe. Die beiden ſollen sich nicht
duellieren, sollen ſich nicht gegenseitig morden. Ich will
dieses Duell verhindern. Und dazu bedarf ich Ihrer. “
f r)ſciuers Des ohnmiächtigen, verzweifelnden Ge-
angenen ?"

ycuen weil Sie ſchon längst erraten haben, wer
der Urheber der düſteren Ereignisſe iſt, deren Schau-
platz Landepereuse war.“

„Ich verſtehe nicht, “ murmelte er, „was Sie meinen
und worauf Sie anſpielen.“ ;

„Jhr Mißtrauen iſt durchaus gerechtfertigt. Es
wird aber sofort ſchwinden, wenn ich Ihnen ſage, daß
ich Savinien v. Albernon hasse, wild und unverſöhn-
lich haſſe. Gestatten Sie mir, ohne Umſchweife zur
Sache zu kommen und Ihnen zu ſagen, weshalb ich,
Urthet hie Berhtnpets Saviniens, heute zu Ihnen ge-
ommen bin."

„Nun weshalb?“ fragte er kalle. Er war um ſo
)gÑr . mißtraviſcher, je höher er ihre Erregung

eigen ſah.

Sie erwiderte leiſe: „Sollten Sie, der Sie die
Absichten Saviniens so genau durchſchaut hatten, der
Meinung sein, ich erriete jet nicht Ihre Gedanken?

Werden Sie mehr Vertrauen zu mir haben, wenn ih

Ihnen sage, daß Sie jetzt, während ich zu Ihnen
lyrght. an Richardier und an meinen Bruder Renaud
enken?“

Sehr ruhig, obſchon innerlich erregt, fragte er:
„Wenn Sie Enthüllungen zu machen haben, so müssen
Sie ſich an die Behörde wenden.“

„Das will ich Jhnen überlaſſen. Gegenwärtig habe
ich nur mit Ihnen zu thun und ich habe mich auch
nur an Sie gewendet, weil ich wußte, daß Ihr Ver-
dacht sich gegen den wirklich Schuldigen kehrt. Allein
an Beweiſen fehlte es Ihnen bislang und dieſe Be-
weiſe bringe ich Ihnen.“

Das Herz des Gefangenen pochte ſtürmiſch. Sprach

Helene die Wahrheit? „Wie ſind Sie in deren Beſis

gelangt?“ fragte er. ;
„Ich war die Mitſchuldige Saviniens. “
„Entsetzlich!“ rief Jean Vandale aus und wich zurück.
„Nicht die Mitſchuldige seiner Verbrechen, “ erklärte
sie, „ſondern nur die Mitſchuldige des maßloſen Ehr-

. | geizes, durch welchen dieſe Verbrechen herbeigeführt

wurden. Ich wende mich voll Abſcheu von den zwei

Mordthaten ab, von denen ich zu ſpät Kenntnis er-

hielt, als daß ich sie zu verhindern vermocht hätte.“
„Weshalb haben Sie aber nach dem Tode Richardiers

nicht die Anzeige gegen den Elenden erſtattet? Sie hätten

auf diese Weiſe den Tod Ihres Bruders verhindert. “

„Aber auch mich ins Verderben geſtürzt, indem ich
Savinien preisgab, und davor ſchrak ich zurück ~ ich
par zu feige dazu. Und darum beſtrafe ich mich heute
elbſt.
ich ihn der verdienten Strafe entgegenführe.“

Und nun erzählte ſie Vandale von den beiden
Briefen, die sie und Savinien ausgetauſcht hatten, und
überreichte ihm den in ihrem Besitze befindlichen, den
er wiederholt durchlas.

„Savinien besitzt alſo einen von Ihnen unterſchrie-
benen gleichlautenden Brief?“ fragte er dann.

nIa. ' ; Ö

„Wo verwahrt er ihn?“
„Das weiß ich nicht. Ich habe überall gesucht,
aber nichts gefunden.“ ;

Denn es iſt auch um mich geſchehen, indem
 
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