Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0096

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
92

Die Bildhauer.

treffüchkeit in dieser Zeit der noch nicht vollkommen entwickelten Kunst, so
werden wir nicht umhin können, uns den Künstler als eine lebendige, gewandte
Persönlichkeit zu denken, welche, wenn sie auch noch nicht geistige Kraft genug
besass, alle hemmenden Bande der Zeit zu sprengen, gewiss mit regem Sinne
überall bestrebt gewesen sein wird, der Kunst in verschiedener Weise neue
Reize zu verleihen. In wieweit und in welcher Richtung dieses bei Kalamis
wirklich der Fall war, werden wir aus der Vergleichung verschiedener Nach-
richten über ihn bestimmter zu beurtheilen im Stande sein.

Es ist eine in der Geschichte der Kunst häufig wiederkehrende Erschei-
nung, dass, während die freie Darstellung des menschlichen Körpers nocli durch
geheiligte Satzungen gehemmt und gebunden ist, die Bildung der Thiere dem
Höhepunkte der Vollendung schon weit näher steht. Hier, wo dem Künstler

129 seine Freiheit unverkümmert gelassen ist, bietet sich ihm die Gelegenheit dar,
seine Kenntniss der Natur, der wirklichen Erscheinung in vollem Maasse zu zeigen.
So ist es bei Kalamis der Fall. Seine Rosse sind semper sine aemulo expressix);
sie sind von einer Vollkommenheit, welche sich über den Stand der damaligen
Kunst weit erheben musste, wenn, wie Plinius berichtet, „auf ein Viergespann
des Kalamis Praxiteles einen Wagenlenker von seiner eigenen Hand setzte, damit
Kalamis, vorzüglicher in der Bildung der Rosse, nicht für unfähig bei der
menschlichen Gestalt gehalten werde." Wie reimt sich aber mit dieser Erzäh-
lung das Urtheil, welches Plinius unmittelbar daran anknüpft? ,,Aber damit
er nicht bei der Darstellung der Menschen in der That schwächer zu sein scheine,
so nenne ich seine Alkmene, die Niemand edler gebildet haben würde." Um
diesen Widerspruch in den Worten des Plinius zu lösen, müssen wir das Lob
genauer prüfen, welches Lucian an zwei Stellen einem andern Werke des Kalamis,
der Sosandra, spendet. In der ersten !) ist von dem Tanze einer Hetaere Thais
die Rede : „Diphilos lobte das Harmonische und Chormässige der Bewegung,
dass der Fuss wohlstehe zur (Jither, und wie schön der Knöchel sei, gleich als
ob er die Sosandra des Kalamis preise und nicht diese Thais, die du ja votri
Bade her kennst." Auf welche Verdienste bei der Statue der Sosandra Lucian
eigentlich ziele, ist hier nicht mit besonderer Bestimmtheit ausgesprochen.
Nehmen wir jedoch die Aeusserung hinzu, dass Thais, ziemlich unbesorgt um
keuschen Anstand, ihr Gewand hoch aufnimmt, um ihren Fuss zu zeigen, dass
eine andere Hetaere Philinna den Spöttereien über die Magerkeit ihrer Schenkel
zu begegnen sucht, indem sie sich ebenfalls zum Tanze anschickt: so scheint
dieser Schilderung gegenüber das Wesen der Sosandra in einer anstandsvollen,
keuschen uud züchtigen Haltung gesucht werden zu müssen. Und diese Auf-
fassung bewährt sich als die richtige durch die Betrachtung der zweiten Stelle
Lucians15), in welcher er nach Art der Caracci eine Frauenschönheit aus Bruch-
theilen der berühmtesten Meisterwerke zusammensetzt. Dabei wird der Sosandra

130 in folgender Weise gedacht: „Sosandra und Kalamis mögen dieses Ideal mit
verschämter Züchtigkeit (aiövl) schmücken, und das ehrbare und unbewusste
Lächeln ({ludia/ia osf.iv6v y.al Xtkri&og) sei nicht verschieden von dem ihrigen ;

1) Plin. 34, 71: vgl. Prep. III. 9, 10. Ovid. Pont. IV, 1. 33. Dial. meretr. III, 3.
;i, Imagg. 6.
 
Annotationen