Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Brunn, Heinrich von
Geschichte der griechischen Künstler (Band 1): Die Bildhauer — Stuttgart, 1889

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.4968#0363

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
V. Die Kunst der Diadochenperiode bis zur Zerstörung Korinths.

35«

neuen, fremden Elementen Bestand und Kraft zu neuen Entwicklungen zu ge-
winnen. Die alten natürlichen, traditionellen Verhältnisse waren gelöst; sie
Hessen sich in die neue Ordnung der Dinge nicht übertragen, sondern mussten
sich nach bestimmten Absichten und für bestimmte Zwecke je nach den
besonderen Umständen neu gestalten: und darum tritt überall an die Stelle
der Unmittelbarkeit früherer Entwiekelungen die reflectirende bewusste Be-
rechnung i).

In Hinsicht auf die Kunst haben wir schon früher behauptet, dass ihre
Entwickelung um die Zeit Alexanders trotz der wesentlichsten Unterschiede
durchaus als eine Fortsetzung der glänzenden perikleischen Epoche erscheine.
Beiden Perioden war in Hinsicht auf künstlerisches Schaffen die Unmittelbar-
keit in der Auffassung der Natur gemeinsam; der Künstler ordnete seine Per-
sönlichkeit durchaus seinem Werke unter, damit dieses seinen Gegenstand ganz
erfülle. Zugleich mussten wir jedoch zugeben, dass sich die Beobachtung all-
mählig immer mehr von dem inneren Wesen der Dinge ab und auf das Aeusser-
liche und Zufällige gewendet hatte. Je grösseren Werth man auf diese Weise
den zufälligen Einzelnheiten, dem äusseren Scheine beizulegen sich gewöhnte,
um so mehr musste die Kenntniss und das Verständniss der festen Normen
und Grundgesetze, auf denen bisher die Ausübung der Kunst beruht hatte,
verloren gehen; es musste Schwanken und Unentschiedenbeit über das Ver-
hältniss einer reinen Nachahmung der Wirklichkeit zu den Forderungen künst-
lerischer Stylisirung entstehen. Gerade damals aber, als sich die Wirkungen
dieser Unsicherheit zu zeigen beginnen, tritt der Umschwung in allen poli-
tischen Verhältnissen ein, in Folge dessen die alten Kunstschulen in ihren Haupt-
sitzen zu Athen, Sikyon und Argos zerfallen. Die Stetigkeit der Entwickelung
in den früher verfolgten Richtungen ist damit unterbrochen; die Sicherheit der
Tradition, wie sie der Zusammenhang einer vielverzweigten Schule gewährt,
ist verloren; und sie musste um so mehr verloren gehen, je weniger die zu-
nächst folgenden Wirren und Kämpfe unter den Nachfolgern Alexanders künst-
lerische Unternehmungen überhaupt begünstigten. Sobald wieder einige Be-
ruhigung eintritt, findet allerdings auch die Kunst wieder Schutz und Auf-
munterung. Aber wie unterdessen Literatur und Poesie von dem ursprünglichen
Zusammenhange mit dem gesammten Leben des Volkes losgerissen und Sache
der Gelehrten und der Gebildeten geworden war, so hat jetzt auch die Kunst
ihre frühere Stellung als integrirender Theil in dem vollendeten Organismus
einer politischen oder religiösen Gemeinschaft eingebüsst. Hier galt es also,
die Unmittelbarkeit der Auffassung, welche nur bei einer vollständigen gegen-
seitigen Durchdringung des Lebens und der Kunst sich zu erhalten vermocht
hatte, das angeborene feine Gefühl, welches der Natur, wo sie es nicht freiwillig
verleiht, nicht abgetrotzt werden kann, durch gründliche Erforschung der Mittel
künstlerischer Darstellung zu ersetzen und den Rest der noch vorhandenen Er-
fahrungen durch eigenes Studium der Dinge selbst und durch das Studium
dessen, was Andere früher geleistet, zu ergänzen.

Hinsichtlich der Technik mochte die materielle Kenntniss aller der ver-

J) Vgl. Droysen Hellenismus I, in der Einleitung.
 
Annotationen