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Hochschule für Industrielle Formgestaltung [Hrsg.]
Designtheoretisches Kolloquium — 14.1990

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Meurer, Bernd: Gestaltung Mythos Vernunft
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https://doi.org/10.11588/diglit.31838#0032
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Ich möchte hier, bevor ich auf konkrete Ver-
änderungen in der Gestaltungspraxis eingehe,
nur zwei für diesen Prozeß wesentliche Ent-
wicklungen herausgreifen und skizzenhaft be-
schreiben.

Die eine betrifft die stattfindenden Umwälzun-
gen im Denken im Bereich der Naturwissen-
schaft. Im Zentrum der anderen stehen die
Veränderungen in der Arbeitswelt.

Seit sich in der Naturwissenschaft die Auflö-
sung des Determinismus in den letzten beiden
Jahrzehnten nach langwierigen Vorentwick-
lungen vollzogen hat, erhält der Begriff pro-
zessualer Gestaltung eine erweiterte Bedeu-
tung. Bis vor nicht allzulanger Zeit hat man in
der Naturwissenschaft - in bewußtem Gegen-
satz zu den Mythologien etwa der Religionen -
versucht, die Welt als gigantisches Räderwerk
zu begreifen. Ein Grundprinzip dieser Denk-
weise besteht in der Annahme, daß die Ur-
sache der Wirkung vorausgeht. Man versuchte
in Kausalzusammenhängen zu denken, oder,
anders gesagt, man versuchte deterministisch
zu denken. Entscheidend erschüttert wurde
der wissenschaftliche Determinismus Anfang
dieses Jahrhunderts durch die Heisen-
berg’sche Unschärferelation. Vorausgegan-
gen waren die Formulierung der Thermodyna-
mik, das war Mitte des 19. Jahrhunderts, die
Niederlegung der Quantentheorie durch Max
Plank, das war 1900, und die Beschreibung
der Relativitätstheorie durch Albert Einstein,
das war 1905.

Der nächste Schlag gegen den Mythos der
Berechenbarkeit kam in der Physik mit der
Entdeckung des Prinzips der ,kleinen Ursa-
chen und großen Wirkungen“. Vielzitiertes An-
schauungsbeipiel für dieses Prinzip sind die
beiden Blätter, die, unmittelbar nebeneinander
gewachsen, identisch in Form, Größe und
Gewicht unter gleichen Bedingungen und im
gleichen Moment sich vom Baum lösen und
in einen Bach fallen. Sie werden auf ihrem
Weg vom Ast durch die Luft, durch den Bach
und den Fluß ins Meer trotz identischer Aus-
gangsbedingungen sich zeitlich und räum-
lich auseinanderbewegen. Ein anderes be-
kanntes Beispiel ist der Regentropfen, von
dem sich, obwohl er bei Windstille genau auf
den Scheitel eines Dachfirstes fällt, nicht vor-
hersagen läßt, auf welcher Seite er ablaufen
wird.

Dieses Phänomen, das sich gerade auch bei
der Wettervorhersage, deren Unzuverlässig-
keit trotz aller technisch wissenschaftlichen
Verbesserung geradezu sprichwörtlich ist, be-
obachten läßt, hat in den 60er Jahren der ame-
rikanische Metereologe Lorenz untersucht.

Mit dem Sturz des Mythos der Berechenbar-
keit wird im Gegenzug auch dem Mythos des
Künstlerischen die Grundlage entzogen. Vor
diesem Hintergrund erscheinen die gegen-
sätzlichen, einerseits mechanistisch und an-
dererseits genialisch orientierten Mythen, die
die Gestaltung stets auf’s neue selbst hervor-
gebracht hat, als Relikte der Vergangenheit.

Die Einsicht, daß sich Entwicklung, sei es in
der natürlichen oder in der artifiziellen Welt,
nicht in Kausalketten denken läßt, widerspricht
jedoch keineswegs der Vernunft, sondern ent-
springt ihr und läßt sich sinnhaft nur mit
ihrer Hilfe umsetzen. Nicht an zuviel Vernunft
hat die bisherige Entwicklung gelitten, sondern
an der Vernunftwidrigkeit und Irrationalität
eines Rationalisierungsbegriffs, der sich ratio-
naler Kritik und selbstreflexiven Prozessen
verschließt.

Bei den stattfindenden Veränderungen in der
Arbeitwelt und den damit sich entwickelnden
sozialen Umwälzungen kommt der techni-
schen Entwicklung eine zentrale Rolle zu. Seit
der Mikroprozessor in die Fabrikhallen, d. h. in
die Arbeitsprozesse auch der Produktion Ein-
gang gefunden hat, wandeln sich die Organi-
sationsformen und die Qualifikationsvoraus-
setzungen der Arbeit, das Verhältnis von Kopf-
und Handarbeit und der gesellschaftlich öko-
nomische Begriff von Arbeit von Grund auf.
Die Prinzipien der Arbeitsgesellschaft, die sich
im 19. Jahrhundert mit der Rationalisierung
durch Mechanisierung herausbildeten und
seitdem immer mehr verfeinerten, beginnen
sich heute mit der Rationalisierung durch mi-
kroprozessuale Techniken mehr und mehr auf-
zulösen.

Insgesamt entsteht eine Offenheit der Situa-
tion, die mit der Entwicklung Mitte des 19. Jahr-
hunderts vergleichbar ist. Damit sind Verän-
derungen in der Gestaltung verknüpft, deren
Tiefe an den Bruch zwischen Kunsthandwerk
und industrieller Gestaltung denken läßt. Der
Gestaltungsprozeß erweitert sich. Mit den sich
wandelnden Voraussetzungen verändern sich
die Gesaltungsaufgaben und -probleme und

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