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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 46.1920

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Michel, Wilhelm: Hunger nach Materie
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https://doi.org/10.11588/diglit.7200#0298

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Hunger nach Materie.

Heckel, ein Macke und andere wußten sich das
Nötige an Materie zu retten und ihr Wert ruht
darauf fest und sicher. Aber viele andere
scheinen dies nicht zu sehen und bestehen auf
der Unvermischtheit des Ausdrucks mit einer
toddrohenden Konsequenz.

Mußte früher gegen die Überlastung des
Kunstwerks mit totem Stoff gestritten werden,
so ist heute wichtig, daran zu erinnern, daß
sich das Kunstwerk nur durch die eingeströmten
Naturelemente verfestigt, genau wie sich in der
Welt der Geist nur durch die Materie in Ver-
festigung, Vereinzelung und Wirksamkeit erhält.

Was will unter anderem die neue Erkenntnis
vom Ausdruckswert der Linien und Farben an
sich (diese sehr wichtige und ergiebige Erkennt-
nis), wenn sie vergißt, daß Linie und Farbe sich
an bedeutungsvolle Materie binden müssen?
Man lege das erregendste Linienschema eines
Baldungschen Bildes statt in menschlichen Kör-
pern in einfachen Farbstrichen oder in Gegen-
ständen ohne bedeutungsvolle Assoziationen
dar: so wird es leer und nichtig bleiben. Und
so weiler durch alle Anwendungen.

Ein bemerkenswerter Umstand: Während
die deutsche Kunst immer hitziger dem Phantom
des absoluten Ausdrucks nachjagt und in Armut
stürzt, wendet sich die Kunst Frankreichs

sehr gelassen der Sinnlichkeit, dem Handwerk,
der Überlieferung zu. Sie hatte diese Dinge
nie ganz verlassen. Selbst gewagte französische
Erzeugnisse behielten immer noch einen letzten
Rest an sinnlicher Gebundenheit, an objektivem
Reiz. Dem französischen Geist war Faßlichkeit
immer eine Hauptforderung. Er hat sich in der
Kunst zu ihr durchgefunden; nicht zurück, son-
dern vorwärts. Es scheint, als sei romanische
Gebundenheit an Form und Erde wieder einmal
bestimmt, der deutschen „Liebhaberei für das
Absolute" das nötige Korrektiv zu liefern.

Wie dem nun sei: jedenfalls muß die Kunst
wieder Tore auftun, durch welche Materie in
sie einströmen kann. Materie in diesem Sinne
ist nicht bloß Natur (als Studienobjekt, als sinn-
liche Form), sondern auch Gemütsmaterie: ein
inneres Ernstnehmen der Dinge, ein Fromm-
sein, ein Sich-Hingeben an die Arbeit und an
das Problem der Verfestigung.

Das tut not. Möglich, daß der Geist des
Geschehens es uns noch ferner vorenthalten
muß. Möglich, daß er unsere Kunst über noch
weitere Umwege treiben will. Das geht uns
nichts an. Wir müssen jedem Geschehen mit
Frommheit bereit sein, aber wir sind auf
Menschengedanken verpflichtet und dürfen sie
aussprechen, wie und wann sie uns kommen.

M. DE VLAMINCK. »DIE KLARINETTE« 1912. gai.erih fleciitheim.
 
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