Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Hinweis: Ihre bisherige Sitzung ist abgelaufen. Sie arbeiten in einer neuen Sitzung weiter.
Metadaten

Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 65.1929-1930

DOI Artikel:
Michel, Wilhelm: Menschheits-Entfaltung in der Kunst
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.9252#0380

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
MENSCHHEITS-ENTFALTUNG IN DER KUNST

VON WILHELM MICHEL

Was ist alles in der Kunst gegenwärtig, was
lebt alles in ihr von menschlichen Kräften,
Gedanken und Betrachtungsweisen! Die Liebe
hat Kunstwerke hervorgebracht, und vielen hat
es geschienen, als ob ein Bestandteil Liebe zum
Kunstschaffen überhaupt unentbehrlich sei.
Aber auch die kalten Affekte der Menschen-
brust, die Kritik, die Ironie, der Haß, haben
sich im Kunstwerk ausgesprochen und so zur
Vervollständigung des Bildes beigetragen, das
die Kunst vom Menschen gibt. Die Anbetung
und die Verzweiflung, die entrückte Betrachtung
und die weltändernde Tatgesinnung, die schwel-
gerische Sinnenfreude und die asketische
Strenge, die Heiterkeit und die Schwermut, die
Milde und der Ernst — sie alle haben ihr Wort in
die Kunst gesprochen. Entzündet sich die bild-
nerische Kraft hier an der Träumerei, so belebt
sie sich dort am männlichen Sinn für die Rea-
lität. Kommt das Kunstwerk hier dem Streben
nach einer höheren Welt entgegen, so verweist
es dort sarkastisch auf den Abstand unsres
Lebens vom Ideal. Die Kunst umschließt das
Genialisch-Hochfliegende wie das Bürgerlich-
Beruhigte, sie drückt Sehnsucht und stilles Ge-

nügen, Hoffart und Demut mit gleicher Klarheit
aus. Alles, was Menschen bewegen kann, geht
in die Kunst ein; und die Charaktere der ein-
zelnen Kunstwerke sind nicht nur so verschie-
den wie die Temperamente der Menschen, son-
dern sie stellen auch die Verschiedenheit und
Vielartigkeit der einzelnen Epochen, der Gene-
rationen, der Völker und Stämme, der Himmels-
striche und der Erdteile dar. Wir können den
Unterschied zwischen zwei deutschen Künstlern
so prinzipiell nehmen, daß sie uns durch eine
Welt getrennt scheinen, so wie man etwa
Goethe und Schiller, Marees und Liebermann
als polare Gegensätze behandelt hat. Aber
diese Gegensätze verflüchtigen sich ins Wesen-
lose, wenn man sie unter dem Gesichtspunkt
des germanisch-romanischen, des antik-moder-
nen oder des europäisch-exotischen Gegen-
satzes betrachtet. So schließt sich auch südliche
Kunst gegenüber der nordischen Kunst zu einer
Einheit zusammen, christliche Kunst gegenüber
der nichtchristlichen, katholische gegenüber der
protestantischen, idealistische gegenüber der
realistischen. Die Kräfte der Zusammenfassung
treten bald stärker, bald schwächer auf, die
 
Annotationen