D. RENOVATIO UND STILENTWICKLUNG
1. Zur Terminologie
„Es geht um das So-Sein von Bauten und
nicht um die Wesensbestimmung von Epo-
chenbezeichnungen. “35°
Die lapidare Aussage, welche Hans Jakob
Wömer seiner voluminösen Untersuchung
zur Architektur des Frühklassizismus in Süd-
deutschland voranstellt, kann auch für diese
Arbeit gelten. Dennoch soll in diesem Kapi-
tel versucht werden, nachdem zahlreiche Ein-
zelbeispiele in ihrem „So-Sein“ untersucht
worden sind, nach eben diesen Epochen, nach
Kontinuität und Wandel und zuletzt nach
dem ominösen Phänomen der „Stilentwick-
lung“ zu fragen. Die Bedeutung eines einzel-
nen Bauwerks, seine Qualität und Individua-
lität wird zuletzt nur im Vergleich deutlich.
Stellt man die Unikate, als welche die Reno-
vationes hier betrachtet werden, nebeneinan-
der, so werden zugleich auch allgemeine bzw.
zeittypische Tendenzen erkennbar351.
Der Begriff „zeittypisch“ verweist auf eine
Prämisse dieser Arbeit: daß Kunstwerke nicht
nur in einem faktischen, sondern auch in ei-
nem essentiellen Sinn „Kinder ihrer Zeit“
sind. Die Wandlung künstlerischer Formen
geht einher mit der Veränderung historischer
Rahmenbedingungen geistiger, politischer
und sozialer Natur, die in einem - nicht im-
mer notwendig direkten und eindeutigen -
Zusammenhang mit der Erscheinung der
Kunstwerke stehen. Dieser Zusammenhang
von „Zeitgeist“ und Renovatio soll im Fol-
genden als eine kontinuierliche Entwicklung
verständlich gemacht und im Vergleich mit
dem gleichzeitigen Neubau betrachtet werden.
1 a) „Stil"?
Eine ausführliche Definition des Terminus
„Stil“ und seiner Geschichte zu geben, wür-
de zu weit führen352. Der Begriff soll hier als
Zeitstil und somit als Synonym für eine
„sich gemäß dem Zeitgeschmack verän-
dernde formale Konvention“ verstanden
werden, als eine Art künstlerische Mode353.
Bialostocki definiert (nach Meyer Schapiro):
„Stil ist vor allem ein Ganzes von Aus-
drucksformen mit bezeichnenden Eigenar-
ten, die das Wesen des Künstlers und die
Mentalität einer Gruppe offenbaren. Er ist
auch das Mittel, Werte innerhalb der Gren-
zen einer Gruppe weiterzugeben und be-
stimmte Werte des religiösen, gesellschaft-
lichen und moralischen Lebens durch die
emotionalen Eingebungen der Formen sicht-
bar zu machen und zu erhalten. Für den
Kulturhistoriker und Philosophen ist der
Stil Ausdruck der Kultur, der die Gesamt-
heit der sichtbaren Zeichen ihrer Einheit
enthält. “354
Sauerländer versucht, den scheinbaren
Gegensatz von Individualstil und Zeitstil zu
überwinden, indem er Stil definiert als „ [...]
ein Medium sozialer Kommunikation [...].
Nur indem das Werk das Originelle und
Spezielle mit den etablierten Regeln ver-
mittelt, kann es zum Träger einer sozialen
Botschaft und zum sozialen Faktum wer-
den. Auch die extremsten Formen der Ori-
ginalität funktionieren nur auf der Basis
von Normen und Konventionen, die der Stil
vorgibt.“iss Der Individualstil steht somit
auf der Basis des Zeitstils. Blanchard leitet
seine Definition des Stils als „vom Künstler
verwendetes Verfahren, [... mit dem ...] das
Visuelle dem Bewußtsein vermittelt wird“
von einer intendierten Wirkung auf das
Publikum ab: ein für den sakralen Barock
durchaus tragfähiger Ansatz356.
Der Begriff wird hier bewußt weit gefaßt und
phänomenologisch, nicht programmatisch
oder ideologisch definiert357: Er schließt die
verschiedenen Modi mit ein, die jeweils für
sich eine Konvention und künstlerische Tra-
ditionslinie bilden, aber im Sinne des sich
wandelnden Zeitstils modifiziert werden.
350 Wömer 1979, S. 22.
351 Vergl. hiermit die berechtigte Kritik bei
Sedlmayr 1931-32, S. 157ff an einem
Stilbegriff, in dem das einzelne Objekt nur
„charakteristisch füi" etwas ist. Hier soll
der umgekehrte Weg verfolgt werden:
„Stil" kann nur aus dem Vergleich vieler
Beispiele als Beschreibung bestimmter
formaler Gemeinsamkeiten einer Epoche
abgeleitet werden. Daß der Autor in spä-
teren Werken, z. B. „Verlust der Mitte"
(1948), genau dies nicht beachtete, kriti-
sierte schon Hofmann 1951.
352 Vergl. Blanchard 1986; Frankl 1988; Bia-
lostocki 1961; Brücher 1985; Dittmann
1967, S. 13-83 und Sauerländer 1999, S.
213-228 und 256-276. James Elkins:
„Style" definiert zu Beginn seines lesen-
werten Beitrags in gewohnter angelsäch-
sischer Pragmatik: „Term used for a co-
herence ofqualities in periods or people.
This is a provisional definition for one of
the most difficult concepts in the lexicon
ofart, and one ofthe chiefareas ofdeba-
te in aesthetics and art history." Siehe Tur-
ner-Grove 1996, Bd. 29, S. 876-883.
353 Zu Stil und Mode siehe Frankl 1988, S.
154ff.
354 Bialostocki 1958 / 1981, S. 111.
355 Sauerländer 1999, S. 263.
356 Nach Blanchard 1986, S. 572 ist Stil „[...]
ein multiples Kommunikationssystem, das
die Ideologie einer Epoche hervorbringt."
(ebd. S. 563): „Wenn der künstlerische Stil
eine Kategorie ist, mit deren Hilfe Publi-
kumsreaktionen bestimmbar werden,
dann muß es dem Analytiker dieses Stils
vorrangig darum gehen, den diese Reak-
tionen auslösenden Prozeß einzukreisen."
357 Sauerländer 1999, S. 272: „Solange der
Kunsthistoriker von Stilen in einer Periode,
Region, Stadt etc. spricht, benutzt er das
Konzept zu Zwecken rationaler Identifika-
tion [...]".
413
1. Zur Terminologie
„Es geht um das So-Sein von Bauten und
nicht um die Wesensbestimmung von Epo-
chenbezeichnungen. “35°
Die lapidare Aussage, welche Hans Jakob
Wömer seiner voluminösen Untersuchung
zur Architektur des Frühklassizismus in Süd-
deutschland voranstellt, kann auch für diese
Arbeit gelten. Dennoch soll in diesem Kapi-
tel versucht werden, nachdem zahlreiche Ein-
zelbeispiele in ihrem „So-Sein“ untersucht
worden sind, nach eben diesen Epochen, nach
Kontinuität und Wandel und zuletzt nach
dem ominösen Phänomen der „Stilentwick-
lung“ zu fragen. Die Bedeutung eines einzel-
nen Bauwerks, seine Qualität und Individua-
lität wird zuletzt nur im Vergleich deutlich.
Stellt man die Unikate, als welche die Reno-
vationes hier betrachtet werden, nebeneinan-
der, so werden zugleich auch allgemeine bzw.
zeittypische Tendenzen erkennbar351.
Der Begriff „zeittypisch“ verweist auf eine
Prämisse dieser Arbeit: daß Kunstwerke nicht
nur in einem faktischen, sondern auch in ei-
nem essentiellen Sinn „Kinder ihrer Zeit“
sind. Die Wandlung künstlerischer Formen
geht einher mit der Veränderung historischer
Rahmenbedingungen geistiger, politischer
und sozialer Natur, die in einem - nicht im-
mer notwendig direkten und eindeutigen -
Zusammenhang mit der Erscheinung der
Kunstwerke stehen. Dieser Zusammenhang
von „Zeitgeist“ und Renovatio soll im Fol-
genden als eine kontinuierliche Entwicklung
verständlich gemacht und im Vergleich mit
dem gleichzeitigen Neubau betrachtet werden.
1 a) „Stil"?
Eine ausführliche Definition des Terminus
„Stil“ und seiner Geschichte zu geben, wür-
de zu weit führen352. Der Begriff soll hier als
Zeitstil und somit als Synonym für eine
„sich gemäß dem Zeitgeschmack verän-
dernde formale Konvention“ verstanden
werden, als eine Art künstlerische Mode353.
Bialostocki definiert (nach Meyer Schapiro):
„Stil ist vor allem ein Ganzes von Aus-
drucksformen mit bezeichnenden Eigenar-
ten, die das Wesen des Künstlers und die
Mentalität einer Gruppe offenbaren. Er ist
auch das Mittel, Werte innerhalb der Gren-
zen einer Gruppe weiterzugeben und be-
stimmte Werte des religiösen, gesellschaft-
lichen und moralischen Lebens durch die
emotionalen Eingebungen der Formen sicht-
bar zu machen und zu erhalten. Für den
Kulturhistoriker und Philosophen ist der
Stil Ausdruck der Kultur, der die Gesamt-
heit der sichtbaren Zeichen ihrer Einheit
enthält. “354
Sauerländer versucht, den scheinbaren
Gegensatz von Individualstil und Zeitstil zu
überwinden, indem er Stil definiert als „ [...]
ein Medium sozialer Kommunikation [...].
Nur indem das Werk das Originelle und
Spezielle mit den etablierten Regeln ver-
mittelt, kann es zum Träger einer sozialen
Botschaft und zum sozialen Faktum wer-
den. Auch die extremsten Formen der Ori-
ginalität funktionieren nur auf der Basis
von Normen und Konventionen, die der Stil
vorgibt.“iss Der Individualstil steht somit
auf der Basis des Zeitstils. Blanchard leitet
seine Definition des Stils als „vom Künstler
verwendetes Verfahren, [... mit dem ...] das
Visuelle dem Bewußtsein vermittelt wird“
von einer intendierten Wirkung auf das
Publikum ab: ein für den sakralen Barock
durchaus tragfähiger Ansatz356.
Der Begriff wird hier bewußt weit gefaßt und
phänomenologisch, nicht programmatisch
oder ideologisch definiert357: Er schließt die
verschiedenen Modi mit ein, die jeweils für
sich eine Konvention und künstlerische Tra-
ditionslinie bilden, aber im Sinne des sich
wandelnden Zeitstils modifiziert werden.
350 Wömer 1979, S. 22.
351 Vergl. hiermit die berechtigte Kritik bei
Sedlmayr 1931-32, S. 157ff an einem
Stilbegriff, in dem das einzelne Objekt nur
„charakteristisch füi" etwas ist. Hier soll
der umgekehrte Weg verfolgt werden:
„Stil" kann nur aus dem Vergleich vieler
Beispiele als Beschreibung bestimmter
formaler Gemeinsamkeiten einer Epoche
abgeleitet werden. Daß der Autor in spä-
teren Werken, z. B. „Verlust der Mitte"
(1948), genau dies nicht beachtete, kriti-
sierte schon Hofmann 1951.
352 Vergl. Blanchard 1986; Frankl 1988; Bia-
lostocki 1961; Brücher 1985; Dittmann
1967, S. 13-83 und Sauerländer 1999, S.
213-228 und 256-276. James Elkins:
„Style" definiert zu Beginn seines lesen-
werten Beitrags in gewohnter angelsäch-
sischer Pragmatik: „Term used for a co-
herence ofqualities in periods or people.
This is a provisional definition for one of
the most difficult concepts in the lexicon
ofart, and one ofthe chiefareas ofdeba-
te in aesthetics and art history." Siehe Tur-
ner-Grove 1996, Bd. 29, S. 876-883.
353 Zu Stil und Mode siehe Frankl 1988, S.
154ff.
354 Bialostocki 1958 / 1981, S. 111.
355 Sauerländer 1999, S. 263.
356 Nach Blanchard 1986, S. 572 ist Stil „[...]
ein multiples Kommunikationssystem, das
die Ideologie einer Epoche hervorbringt."
(ebd. S. 563): „Wenn der künstlerische Stil
eine Kategorie ist, mit deren Hilfe Publi-
kumsreaktionen bestimmbar werden,
dann muß es dem Analytiker dieses Stils
vorrangig darum gehen, den diese Reak-
tionen auslösenden Prozeß einzukreisen."
357 Sauerländer 1999, S. 272: „Solange der
Kunsthistoriker von Stilen in einer Periode,
Region, Stadt etc. spricht, benutzt er das
Konzept zu Zwecken rationaler Identifika-
tion [...]".
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