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Aus dem Tagebuch

j zu Deiner Nachbarin, der Wein sei doch in dieser Kneipe kaum
! hinunter zu würgen, und als Dich Dein vis-ä-vis bat, ihm
! den Rehziemer zu reichen, riethest Du ihm, statt dessen lieber
Kalbsbraten zu essen, das Wild habe eine zu frappante Aehn-
! lichkeit mit Schuhsohlenleder! — Dies; Alles aber sind nichts-
sagende Kleinigkeiten gegen Deine famose Tischrede; heiliger
Demosthenes und Cicero! ist jemals eine solche Fülle von Blöd-
sinn und Ungereimtheit zur Welt gefördert worden, als Du am
gestrigen Abend zusammenstoppeltest! — Natürlich warst Du zu
zerstreut, um die ästhetischen Folterqualen bemerken zu können,
welche die ganze Gesellschaft während Deines schlcusenloscn Wort-
schwalles empfand; aber ich?"

„Fand ich aber nicht," wagte hier der Egoismus zu unter-
brechen, „fand ich aber nicht nach einigen Anstrengungen wirk-
lich einen Schluß — und dazu noch einen ganz passenden?"

„Passend? O ja! nämlich nach dem Vorhergehenden!

! nachdem Du in der Rede selbst die Logik auf's Grausamste
mißhandelt und an den Haaren von einem Thema zum andern
j geschleift hattest, gabst Du ihr zum Schluß noch einen recht
derben Fußtritt; insofern allerdings war dieser Schluß wohl
! passend — sonst indessen wüßte ich nicht, was die theuren Ge-
j treidepreise, von denen Du kurz zuvor sprachest, mit den Manen
des großen Beethoven zu thun haben sollten, denen Du ein
Glas des stillen Andenkens weihtest, und on eonssqusnee ein
donnerndes „Hoch" riefest, welches letztere bei der herrschenden
Einstimmigkeit (denn es fiel Niemandem ein, einzufallen) aller-
dings traurig genug klang!"

Nach Beendigung dieser Philippika, von der die Eigen-
liebe durchaus niedergeschlagen und zum Schweigen gebracht
war, that der gesunde Menschenverstand etwas sehr Gescheidtcs:
er ging nämlich zu Bette, oder besser gesagt — er ging auf das
Bett zu und blieb mir dann plötzlich stehen; aus dem besagten
Bette tönte nämlich ein prononcirtes Schnarchen im tiefsten
Baß und eine weiß-baumwollene Zipfelmütze ragte am Kopf-
ende empor, drohend, wie ein erhobener, gespenstiger Zeigefinger.
Schon war ich im Begriffe, das Haus mit dem Rufe: „Diebe
oder Mörder" in Aufregung zu bringen, als mir noch recht-
zeitig einfiel, daß wohl selbst ein Cartouche oder Schinderhaunes
seine Frechheit schwerlich so weit treiben würde, sein zu berauben-
des Opfer schlafend, wie ein Murmelthier zu erwarten. Im
Verfolg dieser vernünftigen Idee sah ich mich im Zimmer um
und bemerkte jetzt erst — nachdem ich also bis auf die unent-
behrlichsten Garderobestücke entkleidet war — daß ich mich gar
nicht in meiner Behausung befand. Ich war in der Zerstreut-
heit statt zw ei Treppen nur eine hinaufgestiegen, der Schlüssel
hatte zufällig geöffnet, und da das Mondlicht hell genug durch's
Fenster fiel, hatte ich meine Decostümirung im guten Glauben
meines Besitzrechts vollendet, ohne erst lange nach Streichhölzern
zu suchen. Wäre die Gelegenheit günstiger gewesen, so würde
ich meine Polemik gegen mich selbst oder vielmehr gegen meine
Zerfahrenheit unbedingt da wieder ausgenommen haben, wo
ich sie oben fallen ließ — in statu guo jedoch schien es räth-
licher, sich erst aus dem fremden Gebiete zu entfernen, wel-
chen Rückzug (der für meine Verhältnisse gewiß ebenso schwierig

eines Zerstreuten.

und gefahrvoll war, als weiland der berühmte Xenophonische
mit den 10,000 Griechen!) ich mit größter Vorsicht und Stille
in's Werk setzte, indem ich meine Siebensachen über den Arm
nahm und auf den Fußspitzen nach der Thüre schlich. Noch
hatte ich indeß den rettenden Ausgang nicht erreicht, als ich in
dem herrschenden Halbdunkel über einen Stuhl stolperte und den-
selben umstürzend mit ihm zu Boden fiel.

„Hollah, Patron, Dir wollen wir das Handwerk legen!"
rief jetzt vom Bette her eine wahre Löwenstimme und gleich
darauf wurde ich unsanft an der Kehle gepackt und mit un-
widerstehlicher Gewalt zum Fenster gezogen, welches mein freund-
licher Nachbar mit der Linken öffnete, während ich mich ver-
gebens bemühte, mit meinen beiden Händen seine Rechte von
meinem Halse zu entfernen.

„Wächter! Hülfe! Diebe!" tönte das Riesenorgan des
Unmenschen in die stille Nacht hinaus, und ich muß gestehen,
daß auch ich die Ankunft und Intervention dieses Sicherheits-
beamten mit Sehnsucht herbeiwünschte, denn ich fing an zu '
fürchten, mein Herr Nachbar werde mich in der Freude seines
Herzens, einen echten, veritablcn Spitzbuben erwischt zu haben,
mit der Zeit gänzlich der Luft berauben.

Endlich erschien der nächtliche Custode, um sein Opfer in
Empfang zu nehmen; vergeblich war meine Protcstation gegen
meinen Transport zur Polizeistube — Wächter und Nachbarn
bestanden mit eiserner Consequenz darauf, und es gelang mir nur
durch inniges Flehen, die zu meiner Wiederbeklcidung nöthige
Frist zu erlangen — während doch sogar dem berüchtigten
Attentäter Möros, der sich unbedingt viel Schlimmeres hatte
zu Schulden kommen lassen, als ich, ohne Weiteres eine drei-
tägige Frist zu Theil wurde und gewiß zu einem weit weniger
wichtigen Zweck! „Eine Nacht im warmen Brummstall ist besser,
als auf dem kalten Heuboden," sagt irgendwo ein berühmter
Culturhistorikcr, und cs ist möglich, daß er von seinem Stand-
punkte aus Recht hat. Dennoch Hütte ich meinerseits lieber
eine ganze Woche im Freien campirt, als diese Nacht in der
anmuthigen Gesellschaft eines halben Dutzend vagabundirender j
Strolche zugcbracht, welche ebenfalls im Polizei-Gewahrsam 24
Stunden freies Quartier und die Gelegenheit erhielten, über
ihren verübten Straßenunfug nachzudenken.

Freilich würde mich der Commissarius noch in derselben j
Nacht entlassen haben, wenn mir nur — lache nicht, lieber
Leser, sondern weihe mir eine Zähre stillen Mitgefühls! —
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Werk/Gegenstand/Objekt

Titel

Titel/Objekt
"Aus dem Tagebuch eines Zerstreuten"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Grafik

Inschrift/Wasserzeichen

Aufbewahrung/Standort

Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES

Objektbeschreibung

Maß-/Formatangaben

Auflage/Druckzustand

Werktitel/Werkverzeichnis

Herstellung/Entstehung

Entstehungsort (GND)
München

Auftrag

Publikation

Fund/Ausgrabung

Provenienz

Restaurierung

Sammlung Eingang

Ausstellung

Bearbeitung/Umgestaltung

Thema/Bildinhalt

Thema/Bildinhalt (GND)
Mann <Motiv>
Angriff
Bajonett <Motiv>
Verwechslung <Motiv>
Leuchte
Nachbar
Wohnung <Motiv>
Nacht <Motiv>
Nachtkleidung
Karikatur
Satirische Zeitschrift

Literaturangabe

Rechte am Objekt

Aufnahmen/Reproduktionen

Künstler/Urheber (GND)
Universitätsbibliothek Heidelberg
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Alle Rechte vorbehalten - Freier Zugang
Creditline
Fliegende Blätter, 55.1871, Nr. 1366, S. 90
 
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