Fliegende Blätter (55.1871 (Nr. 1355-1380))

Das schönste Lied

20-')

Ich ging nach Haus' von der Soiree,

Im Ohr hat's mir noch geklungen,

Da hat eine Frau, wie die leibhafte Fee,
Die „Lorelei" gesungen.

Sic sang so stark, sie sang so lind,

Sie könnte die Welt bethören,

In dunklem Zimmer ihr einsam Kind,
Das konnte davon nichts hören;

„Es liegt allein, und weinet bang',"

So denk' ich in wachem Traume, —

Da hemmt meinen Gang ein leiser Gesang,

Aus einem Kellerraume;

Gar einfach ist die Melodie,

Ich kenne sic so lange

Ich denke, und vergeh' sie nie; —

Klar wird's mir beim schmucklosen Sange:

Das schönste Lied, das dem Weibe gelingt,

Das jede Kunst muß besiegen,

Ist, was die liebende Mutter singt

Ihrem Kindlein in der Wiegen. Ceossur.

(Die Herzogin besucht gern Schulen. Sic tritt in eine Klasse, deren
Lehrer nicht von ihrem Kommen unterrichtet ist)

Lehrer: „Königliche Hoheit, wir haben grad' Natur-
geschichte." — Herzogin: „Bitte, lassen Sie sich nicht stören.
Thun Sic, als wenn ich gar nicht da wäre." — Lehrer:
„Wir waren grad' mit den Säugethieren fertig und ich wollte
eine kleine Wiederholung unstellcn." — Herzogin: „Desto
besser, da höre ich, was sich die Kinder gemerkt haben." —
Lehrer: „Welches sind die Süugethiere, die ans niederster

Entwickelungsstufe stehen, Franz?" — Franz: „Die im Wasser
leben." — Lehrer: „Recht so. Hans, nenne mir solche!" —
Hans: „DerWallfisch, der Seehund, die Seekuh, das Seckalb."
— Lehrer: „Recht. Welches ist aber das Säugethier, welches
auf höchster Entwickelungsstuse steht, Fritz?" — Fritz: „Das-
Süugethier, welches auf höchster — höchster Stufe — höchster
Stufe —" — Lehrer: „Du siehst cs ja hier in der Stube." —
Fritz: „Das Süugethier, welches auf höchster Stufe steht,
ist — ist — ist — die Frau Herzogin."