Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Marées-Gesellschaft [Hrsg.]
Ganymed: Blätter der Marées-Gesellschaft — 5.1925

DOI Heft:
Paralipomena
DOI Artikel:
Goethe, Johann Wolfgang von: Goethe über Palladio: (aus der italiänischen Reise)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.53469#0252

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
GOETHE ÜBER PALLADIO

Mi
den Freunden einen Hauch dieser leichtern Existenz hinüber senden! Jawohl ist dem
Italiäner das Ultramontane eine dunkle Vorstellung, auch mir kommt das Jenseits der
Alpen nun düster vor; doch winken freundliche Gestalten immer aus dem Nebel. Nur das
Klima würde mich reizen, diese Gegenden jenen vorzuziehen: denn Geburt und Gewohn-
heit sind mächtige Fesseln. Ich möchte hier nicht leben, wie überall an keinem Orte, wo
ich unbeschäftigt wäre; jetzt macht mir das Neue unendlich viel zu schaffen. Die Bau-
kunst steigt, wie ein alter Geist, aus dem Grabe hervor, sie heißt mich ihre Lehren, wie die
Regeln einer ausgestorbenen Sprache, studieren, nicht um sie auszuüben oder mich in ihr
lebendig zu erfreuen, sondern nur um die ehrwürdige,für ewig abgeschiedene Existenz
der vergangenen Zeitalter in einem stillen Gemüte zu verehren. Da Palladio alles auf
Vitruv bezieht, so habe ich mir auch die Ausgabe des Galiani angeschafft; allein dieser
Foliante lastet in meinem Gepäck wie das Studium desselben auf meinem Gehirn. Palladio
hat mir durch seine Worte und Werke, durch seine Art und Weise des Denkens und
Schaffens den Vitruv schon näher gebracht und verdolmetscht, besser als die italiänische
Übersetzung tun kann. Vitruv liest sich nicht so leicht, das Buch ist an sich schon düster
geschrieben und fordert ein kritisches Studium. Demungeachtet lese ich es flüchtig durch,
und es bleibt mir mancher würdige Eindruck. Besser zu sagen: ich lese es wie ein Brevier,
mehr aus Andacht als zur Belehrung. Schon bricht die Nacht zeitiger ein, und gibt Raum
zum Lesen und Schreiben.
Gott sei Dank, wie mir alles wieder lieb wird, was mir von Jugend auf wert war! Wie
glücklich befinde ich mich, daß ich den alten Schriftstellern wieder näher zu treten wage!
Denn jetzt darf ich es sagen, darf meine Krankheit und Torheit bekennen. Schon einige
Jahre her dürft1 ich keinen lateinischen Autor ansehen, nichts betrachten, was mir ein Bild
Italiens erneute. Geschah es zufällig, so erduldete ich die entsetzlichsten Schmerzen. Herder
spottete oft über mich, daß ich all mein Latein aus dem Spinoza lerne, denn er hatte be-
merkt, daß dies das einzige lateinische Buch war,das ich las; er wußte aber nicht, wie
sehr ich mich vor den Alten hüten mußte, wie ich mich in jene abstrusen Allgemeinheiten
nur ängstlich flüchtete. Noch zuletzt hat mich die Wielandsche Übersetzung der Satyren
höchst unglücklich gemacht; ich hatte kaum zwei gelesen,so war ich schon verrückt.
Hätte ich nicht den Entschluß gefaßt, den ich jetzt ausführe, so wär1 ich rein zugrunde
gegangen : zu einer solchen Reife war die Begierde, diese Gegenstände mit Augen zu sehen,
in meinem Gemüt gestiegen. Die historische Kenntnis fördert mich nicht, die Dinge stan-
den nur eine Hand breit von mir ab; aber durch eine undurchdringliche Mauer geschie-
den. Es ist mir wirklich auch jetzt nicht etwa zumute, als wenn ich die Sachen zum
erstenmal sähe, sondern als ob ich sie wiedersähe. Ich bin nur kurze Zeit in Venedig und
habe mir die hiesige Existenz genugsam zugeeignet und weiß, daß ich, wenn auch einen
unvollständigen, doch einen ganz klaren und wahren Begriff mit wegnehme.
 
Annotationen