WILHELM MICHEL/HÖLDERLINS ODE „GANYMED« i4;
HÖLDERLINS ODE „GANYMED"
VON
WILHELM MICHEL
Der geistige Besitz einer Nation verändert seinen Nutzungswert je nach den Nöten und
Begeisterungen, die die wechselnden Stunden beherrschen. Oft erweist sich ein Mann
im höheren Haushalt der Volksgemeinschaft als eine weitschichtige, geistige Unternehmung,
die erst spät zu Frucht und Nutzen kommt. Dafür sind andere wieder kurzfristige Ein-
sätze von augenblicklichem und rasch verbrauchtem Ertrag.
Hölderlin steht gewiß nicht ohne Beziehung in seiner Zeit. Er gibt sich selbst als Sühn-
opfer für die naturfremde, alles berechnende Barbarei seiner Gegenwart. Aber es scheint,
daß der Gott dieses Opfer nur als einen schönen Überfluß nahm, als ein überschüssiges
Entgelt für versäumten Gottesdienst. Denn das Eigentliche und Entscheidende hatte sich
bereits anderwärts, auf der Linie von Lessing bis Goethe, vollzogen. Hölderlins Opfertat und
Opfertod sind überschießende Leistungen der Nation. Sie blieben ein Jahrhundert lang
ungenutzt — wenn ich hier vergleichsweise ein dogmatisches Bild hereinnehmen darf—
im Gnadenschatz des Volkes liegen.
Inzwischen ist Goethes Zeitalter, soweit es seine unmittelbare und persönliche Auswirkung
war, vergangen. Seine greifbar vorgelebte Ganzheit ist uns ideal geworden. Wir sind ins
Bruchstückhafte geraten. Daher werden Erscheinungen von neuem wirksam, die er-
gänzender Art sind und bedeutsam auf den großen Zusammenhang weisen. Goethe bleibt
die Sonne, das Gestirn im Mittelpunkt. Hölderlin wird wirksam als eine ziehende und
zielende, dem Mittelpunkt zustrebende Kraft. Das ganymedisch Aufsteigende, das stürmisch
zu Göttern den Weg Weisende gelangt in einem trägen und doch gespannten Augenblick
des deutschen Lebens zur Bewährung. Ein spätes Bruchstück Hölderlins sagt nach-
denklich :
. . . Aber da wir träge
Geboren sind, bedarf es des Falken, dem
Befolgt’ ein Reuter, wenn
Er jaget, den Flug.
Man ist in Deutschland daran, den Enthusiasmus zu ertanzen, die Natur zu erwandern.
Aber wichtiger ist, daß im Geist die ganymedischen Kräfte zum Sieg kommen. Es ist
wichtiger, daß wir dem wegweisenden Falken in der Höhe nachreiten lernen, zu den
Göttern, zu einer neuen Schicksalhaftigkeit und einer neuen Tragik, zu einem naturhaft
durchwirkten und doch durch alle Natur zum Geist vorstoßenden Weltbild. Das war Höl-
HÖLDERLINS ODE „GANYMED"
VON
WILHELM MICHEL
Der geistige Besitz einer Nation verändert seinen Nutzungswert je nach den Nöten und
Begeisterungen, die die wechselnden Stunden beherrschen. Oft erweist sich ein Mann
im höheren Haushalt der Volksgemeinschaft als eine weitschichtige, geistige Unternehmung,
die erst spät zu Frucht und Nutzen kommt. Dafür sind andere wieder kurzfristige Ein-
sätze von augenblicklichem und rasch verbrauchtem Ertrag.
Hölderlin steht gewiß nicht ohne Beziehung in seiner Zeit. Er gibt sich selbst als Sühn-
opfer für die naturfremde, alles berechnende Barbarei seiner Gegenwart. Aber es scheint,
daß der Gott dieses Opfer nur als einen schönen Überfluß nahm, als ein überschüssiges
Entgelt für versäumten Gottesdienst. Denn das Eigentliche und Entscheidende hatte sich
bereits anderwärts, auf der Linie von Lessing bis Goethe, vollzogen. Hölderlins Opfertat und
Opfertod sind überschießende Leistungen der Nation. Sie blieben ein Jahrhundert lang
ungenutzt — wenn ich hier vergleichsweise ein dogmatisches Bild hereinnehmen darf—
im Gnadenschatz des Volkes liegen.
Inzwischen ist Goethes Zeitalter, soweit es seine unmittelbare und persönliche Auswirkung
war, vergangen. Seine greifbar vorgelebte Ganzheit ist uns ideal geworden. Wir sind ins
Bruchstückhafte geraten. Daher werden Erscheinungen von neuem wirksam, die er-
gänzender Art sind und bedeutsam auf den großen Zusammenhang weisen. Goethe bleibt
die Sonne, das Gestirn im Mittelpunkt. Hölderlin wird wirksam als eine ziehende und
zielende, dem Mittelpunkt zustrebende Kraft. Das ganymedisch Aufsteigende, das stürmisch
zu Göttern den Weg Weisende gelangt in einem trägen und doch gespannten Augenblick
des deutschen Lebens zur Bewährung. Ein spätes Bruchstück Hölderlins sagt nach-
denklich :
. . . Aber da wir träge
Geboren sind, bedarf es des Falken, dem
Befolgt’ ein Reuter, wenn
Er jaget, den Flug.
Man ist in Deutschland daran, den Enthusiasmus zu ertanzen, die Natur zu erwandern.
Aber wichtiger ist, daß im Geist die ganymedischen Kräfte zum Sieg kommen. Es ist
wichtiger, daß wir dem wegweisenden Falken in der Höhe nachreiten lernen, zu den
Göttern, zu einer neuen Schicksalhaftigkeit und einer neuen Tragik, zu einem naturhaft
durchwirkten und doch durch alle Natur zum Geist vorstoßenden Weltbild. Das war Höl-