2 12
REINHARD PIPER
kräften ausgestattetes Kind. Ich bat ihn immer, seine Arbeiten sehen zu dürfen. Es war
nicht mehr viel zu sehen.Skizzenbücher waren nicht zur Hand; es gab nur einen Stoß
Zeichnungen; und es gab etliche neue Bilder nach alter Weise: die Augen waren schwach
geworden, und nun tröstete sich der alte Mann damit, alte Zeichnungen aus eigener Hand
malend auf Leinwände zu übertragen. Diese Leinwände waren nicht sein Bestes. Ich weiß
nicht, ob er es empfand. Er hielt sich nicht gern lange bei seinen Arbeiten auf, und er
sprach von seinem späten Zustand mit einer leisen Ironie. Er liebte es, den Besucher abzu-
lenken — schlug vor, zu musizieren. Er hatte ein Pianola.Was ich hören möchte? Bitte
schön: Rameau. Ja,Rameau.Rameau wurde gespielt. Aber ob ich nun nicht lieber etwas
ganz anderes hören möchte — zum Beispiel Peer Gynt von Grieg? Ich erschrecke ein
wenig. Aber gewiß, Herr Professor, ich bitte darum, ünd nun mußte man sehen, wie in
dem alten Rücken alle verheimlichte Emphase aufzuleben begann; wie dieser alte Rücken
alle unterdrückte Emphase trug, aufstemmte. Es war die schwächste Stelle, welche die
stärkste war. Er lebte am liebsten, heimlicherweise, in dem Element, das ihm nicht ge-
geben war oder so, wie es an ihm war, nur einen Mangel dokumentierte. Oberländer, welcher
der Musik Griegs unterliegt... Man denke. Aber so war es. Dieser Moment gehörte zu den
ernstesten, die ich erlebt habe. Ich werde ihn nicht vergessen, und wenn ich alt werde wie
Methusalem. Denn von diesem — sagen wir immerhin ehrlich: ein wenig fatalen Moment
schien das ganze graphische Werk des Meisters — das, nochmals, ein klassisches Werk ist —
zur Seite geschoben, ins Nebensächliche gerückt. In erhabeneren Zeiten hat man diese
Verkehrung der Proportion mit dem Namen des Tragischen ausgezeichnet.
EIN BESUCH BEI OBERLÄNDER
(TAGEBUGHBLATT AUS DEM SOMMER 1915)
VON
REINHARD PIPER
Schon lange war es mein Wunsch, in meiner kleinen Sammlung von Zeichnungen
und Bildern auch ein Blatt von Oberländer zu besitzen. Ich dachte weniger an für
die Reproduktion in den „Fliegenden" fertiggemachte Federzeichnungen, sondern hoffte,
daß Oberländer irgendwelche Skizzen, Niederschriften des ersten Einfalls haben werde,
REINHARD PIPER
kräften ausgestattetes Kind. Ich bat ihn immer, seine Arbeiten sehen zu dürfen. Es war
nicht mehr viel zu sehen.Skizzenbücher waren nicht zur Hand; es gab nur einen Stoß
Zeichnungen; und es gab etliche neue Bilder nach alter Weise: die Augen waren schwach
geworden, und nun tröstete sich der alte Mann damit, alte Zeichnungen aus eigener Hand
malend auf Leinwände zu übertragen. Diese Leinwände waren nicht sein Bestes. Ich weiß
nicht, ob er es empfand. Er hielt sich nicht gern lange bei seinen Arbeiten auf, und er
sprach von seinem späten Zustand mit einer leisen Ironie. Er liebte es, den Besucher abzu-
lenken — schlug vor, zu musizieren. Er hatte ein Pianola.Was ich hören möchte? Bitte
schön: Rameau. Ja,Rameau.Rameau wurde gespielt. Aber ob ich nun nicht lieber etwas
ganz anderes hören möchte — zum Beispiel Peer Gynt von Grieg? Ich erschrecke ein
wenig. Aber gewiß, Herr Professor, ich bitte darum, ünd nun mußte man sehen, wie in
dem alten Rücken alle verheimlichte Emphase aufzuleben begann; wie dieser alte Rücken
alle unterdrückte Emphase trug, aufstemmte. Es war die schwächste Stelle, welche die
stärkste war. Er lebte am liebsten, heimlicherweise, in dem Element, das ihm nicht ge-
geben war oder so, wie es an ihm war, nur einen Mangel dokumentierte. Oberländer, welcher
der Musik Griegs unterliegt... Man denke. Aber so war es. Dieser Moment gehörte zu den
ernstesten, die ich erlebt habe. Ich werde ihn nicht vergessen, und wenn ich alt werde wie
Methusalem. Denn von diesem — sagen wir immerhin ehrlich: ein wenig fatalen Moment
schien das ganze graphische Werk des Meisters — das, nochmals, ein klassisches Werk ist —
zur Seite geschoben, ins Nebensächliche gerückt. In erhabeneren Zeiten hat man diese
Verkehrung der Proportion mit dem Namen des Tragischen ausgezeichnet.
EIN BESUCH BEI OBERLÄNDER
(TAGEBUGHBLATT AUS DEM SOMMER 1915)
VON
REINHARD PIPER
Schon lange war es mein Wunsch, in meiner kleinen Sammlung von Zeichnungen
und Bildern auch ein Blatt von Oberländer zu besitzen. Ich dachte weniger an für
die Reproduktion in den „Fliegenden" fertiggemachte Federzeichnungen, sondern hoffte,
daß Oberländer irgendwelche Skizzen, Niederschriften des ersten Einfalls haben werde,