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Ernst Bernheim.

4. Die Karolingische Renaissance.
Schon einmal, vor der „Wiedergeburt des Altertums“ im
15. Jahrhundert, hat ja in der Entwickelung der Geisteskultur
und der Schrift eine Art Renaissance stattgefunden: zur Zeit
Karls des Grossen. Und merkwürdiger Weise ist auch dieser für
die Gesamtentwickelung so grundwichtigen Wandlung die paläo-
graphische Forschung und Edition lange nicht in vollem Masse
gerecht geworden, namentlich auch jetzt noch nicht hinsichtlich
der Anschauungsmittel für den Unterricht.
Erst 1885 hat bekanntlich L. Delisle in seinem „Memoire
sur l’ecole calligraphique de Tours“ Schriftproben geliefert, die
unzweifelhaft aus der massgebenden Schreibschule Alenins stammen,
und hat nachgewiesen, dass die Proben, welche Arndt in seinen
Schrifttafeln Nr. 37 ff. gegeben hat, derselben zwar nahe stehen,
aber nicht direkt angehören; es ist sehr dringend zu wünschen,
dass Tangl im zweiten Heft seiner Neubearbeitung Specimina
jenei' Alcuinhandschriften reproduziere, die den reinen Typus
der karolingischen Reform darstellen und deren Charakter am
treuesten zeigen.
Welches ist aber eigentlich der Charakter dieser berühmten
Reform? Wie ist sie entstanden? Welche Vorbilder haben auf sie
eingewirkt ?
Wattenbach hat in seiner „Anleitung zur lateinischen Paläo-
graphie“ nicht klare Auskunft darüber gegeben, und das hat
lange nachgewirkt. Erst Delisle hat in der eben angeführten Ab-
handlung und in anderen Publikationen genauere Aufschlüsse ge-
boten, auf denen die Darstellungen von Prou und Thompson in
ihren Handbüchern beruhen, die des letzteren modifiziert und ge-
fördert durch eigenes Zuthun.
Man ist nun wohl allgemein überzeugt, dass die karolingische
Minuskel eine gleichmässig normierte Veredlung- der mehr oder
weniger durch Kursive zersetzten hässlich ungleichmässigen Halb-
unziale der Zeit, nach Muster der älteren vornehmeren Halbunziale
ist. Muster der letzteren hatte man damals vor Augen in älteren
gemeinrömischen Handschriften etwa des 6. Jahrhunderts, aber
auch in den zeitgenössischen Handschriften der Iren und Angel-
sachsen, welche sich die ältere römische Halbunziale fast rein
erhalten hatten, weil bei ihnen keine Kursive in Gebrauch stand
 
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