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474 Konrad Häbler.
Aufenthalte freundschaftlich und gastlich entgegenkamen, hätten,
wenigstens zu einem beträchtlichen Teile, eine ganz andere Hal-
tung ihm gegenüber beobachtet, hätten sie voraussehen können,
welche Entwickelung die Bewegung innerhalb der nächsten acht
Jahre durchzumachen bestimmt war.
Das Gefühl, dass die katholische Kirche in weiten Kreisen
einer argen Verweltlichung anheimgefallen war, dass die Kirchen-
zucht schwer vernachlässigt, das Leben des Klerus vielfach wenig
mit seinem heiligen Berufe im Einklang war, war nicht nur in
Deutschland, sondern auch in den Ländern romanischer Zunge
ausserordentlich weit verbreitet. Fast in jedem Jahrzehnt des
15. Jahrhunderts hatten sich an einer oder der anderen Stelle
tiefer und innerlicher veranlagte Naturen dazu berufen gefühlt,
mit heiligem Eifer gegen die Entsittlichung des Klerus, gegen
den Verfall der katholischen Kirche zu predigen. Manche von
ihnen hatten sich dazu fortreissen lassen, aus der Gemeinschaft
der Kirche herauszutreten und neue Sekten zu begründen; eine
weitaus grössere Mehrzahl aber wollte das Dogma der Kirche
keineswegs antasten, sondern nur deren äusseres Leben von den
Auswüchsen, die im Laufe der Zeit daran sich gebildet hatten,
befreien und es zu der Reinheit des apostolischen Zeitalters
zurückführen. Besonders zu Beginn des 16. Jahrhunderts war
das Eifern gegen die weit verbreiteten Übelstände in der katho-
lischen Kirche ausserordentlich häufig geworden; während es aber
z. B. in Spanien rasch zu einer Reformation des Klerus führte,
brachte es in Deutschland, entsprechend dem eigensinnigen und
eigenwilligen Nationalcharakter, nur einen ausserordentlich leb-
haften Meinungsaustausch zu stände, in welchem fast ebensoviel
Ansichten und Forderungen vertreten waren, als Männer und
Schriftsteller daran teihiahmen.
In der umfänglichen Litteratur, welche sich mit der Not-
wendigkeit einer Reformation des geistlichen Lebens beschäftigte,
bildeten zunächst die 95 Thesen Luthers keineswegs das epoche-
machende Ereignis, welches die protestantische Geschichtschreibung
nachträglich daraus gemacht hat. Diese lateinisch abgefassten
Behauptungen waren zunächst nur die Grundlage einer theo-
logischen Fehde, wie deren unzählige innerhalb der katholischen
Kirche ausgefochten worden waren, ohne dass damit deren Ein-
heit gefährdet worden wäre. Sie wäre vermutlich auch damals
 
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