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Lin Märchen
von
Wcrnöcr Wcr^teLs.

Wie öie Tanne Mm WeLßnachtsöaum wurde.
Illustrirt
von
Mathilde Coester.

Zelt wann und

s war mitten im Winter. Dicker
Schnee deckte die Felder und lastete
schwer auf den Aesten der Bäume;
und die Menschen fluchteten vor dem
kalten Wind in ihre Häuser, zünde-
ten ihre Lampen an und sprachen: x
„O, wie ist es hier schön und ge- ' /
mütlich!" Nun, sie wußten^/
es eben nicht besser. Sie fan-
den es schön, am Ofen zu
sitzen, während draußen im
Wald — wollt ihr wissen,
was im Wald geschah?
Also draußen im Wald,
recht in seiner Mitte, wo er
am dichtesten, stand eine
große Tanne; die streckte
ihre schönen grünen Zweige bis H
ins Moos, daß sie ein geräumiges
Zelt bildeten, und der Schnee, der
auf den Zweigen lag, machte das
Zelt warm und behaglich und wehrte dem kalten Nordwind den
Eingang Aus Rache zauste er der Tanne Wipfel so schlimm er
konnte, aber die Tanne lachte ihn aus und schaukelte ihre bieg-
samen Zweige so leicht und anmutig, daß der Nordwind ärgerlich
davonsauste und die dürren Eichen- und Buchenblätter vor
sich hinsegte, daß es ein Spaß war, es anzusehen. Und F-O
hinter ihm kamen — surrrr — die Spatzen vom Waldweg, /
setzten sich auf die Zweige der Tanne, schimpften auf ihn IZW
und glätteten die Federn, die er ihnen in Unordnung ge- LsM
bracht hatte.
Dabei schwatzten sie über dies und das mit großem
Lärm: wie der Schnee so hoch sei und die Menschen so EM
hartherzig; einer sagte, er hätte heute einen guten Fang
gethan und aus einem offenen Fenster ein weiches Stück-
chen Weißbrot erwischt; einer war fast von einem Pferde
gebissen, dem er etwas Hafer mausen wollte, und einer
zeigte gar ein wundes Flügelchen, weil ihn die Köchin mit einem
Stein getroffen, als er vom Hühnerfuttcr naschte.
Alle hatten sie etwas zu erzählen und schwatzten und schülpsten
um die Wette, bis sie fast heiser waren; nur einer saß dabei, ohne
das Schnäbelchen aufzuthun; jedoch lächelte er sehr überlegen,
wenn einer eine neue Geschichte erzählte und die anderen mit den
Flügeln schlugen und schrieen: „Schlüp, schlüp, wie schlimm, wie
schlimm!" und vor Erstaunen schier außer sich geraten wollten.
Ill.lstr. Welt. 1890. 11.

Nun endlich waren die Neuigkeiten erschöpft, alle
schwiegen einen Augenblick und sahen sich an. —
„Schiep," sagte einer. — „Schiep," antwortete ein
> anderer, und — „Schiep, schiep, schiep, schiep,
schiep," schrieen sie alle auf einmal. Aber das war
nichts Neues, darum schwiegen sie wieder und sahen
sich um.
„Schiep, Naseweischen ist da," sagte einer und
nickte dem Spatz zu, der noch nichts erzählt hatte.
„Naseweischen, Naseweischen ist da!" schrieen
die anderen und fuhren auf ihn zu, daß er sich
kaum ihrer stürmischen Begrüßung erwehren konnte.
„Er hat noch nichts erzählt," sagte einer.
„Er weiß nichts," sagte ein anderer. Und nun
lachten sie aus vollem Halse über Naseweischen,
weil er noch immer stumm dasaß und lächelte.

„Wie wird Naseweischen nichts wissen! Fragt
ihn doch nur erst," sagte eine alte Sperlingsmama,'
und nun fuhren sic wieder alle auf einmal los:
„Was weißt? — Schiep, schiep, weißt was,
Naseweischen?"
„Zu erzählen weiß ich freilich nichts," sagte
Naseweischen. Da kicherten sie wieder alle, denn
es war unerhört, daß Naseweischen nichts zu er-
zählen haben sollte. „Aber," fuhr Naseweischen
fort, „ich will euch etwas zeigen, was ich entdeckt
habe."
„Jst's ein geplatzter Hafersack?" fragte die alte
Sperlingsmama.
„Nein," sagte Naseweischen, „es ist nichts zu
essen, aber es ist sehr schön, schöner als — als ein
Schulbutterbrot! Ja!"
 
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