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-M Achtuilddreisilgsier Jahrgang. U—


M Hlullgarh Eeipyg, Berlin, Wien. W>-

Ein Backfischstreich.
Humoreske
von
Karl Krüger.
(Alle Rechte Vorbehalten.)
1.
hast Du vor, Tilli? Willst Du
denn noch fortgehen?"
„Ich möchte Ida besuchen, Mama."
„Jetzt, um sechs Uhr abends? Sie
ladet Dich doch sonst immer schriftlich zum
Abendbrot ein."
„Ja, aber diesmal ist es auch etwas an-
deres — wir arbeiten heute wieder an den
Weihnachtsgeschenken. Siehst Du, wir haben
am Donnerstag nur lauter Unsinn gemacht
und nichts gearbeitet, darum machten wir aus,
uns heute wieder bei Ida einzufinden. Du
hast doch nichts dagegen, liebste Mama?"
„Gewiß nicht -- nur hättest Du es mir
wohl eher sagen können."
Tilli Lenz, die Tochter eines Großhändlers,
war ein reizendes junges Mädchen von acht-
zehn Jahren mit großen braunen, schelmischen
Augen, vollen, mattrosa angehauchten Wangen,
schwarzem Haar, kurz, eine liebliche dunkle
Schönheit. Aber hinter dieser von krausen
Löckchen beschatteten Stirn verbargen sich tau-
send neckische Gedanken.
Tilli kicherte in sich hinein, als sie, nachdem
die Mutter ins Nebenzimmer gegangen war,
vor ihrem Schränkchen kniete und darin kramte.
„Wenn Mama wüßte!" dachte sie. „Mama
muß wirklich blind sein, daß sie nicht sieht,
welch ein feines Kleid ich anhabe! Als ob ich
damit zu Ida gehen würde! Nein, ich gehe
ganz wo anders hin, hi, hi, hi! Werde ich
mich aber heut abend amüsiren!"
Und hastig packte sie ein paar Helle Hand-
schuhe, einen Fächer und einen kleinen Opern-
gucker in eine Stickrolle. Dann klingelte sie.
„Mein schwarzseidenes Jaquet, Lisbeth!"
befahl sie dem cintretenden Stubenmädchen,
Kaunr hatte sie das verlangte Kleidungs-
stück angezogen, als die Mutter wieder erschien.
„Aber, Kind!" rief sie. „Deinen allerbesten
Paletot? Bei diesem Schneetreiben draußen?"
Das junge Mädchen warf schmollend die
Lippen auf.
„Mama — thu doch nicht immer, als ob
ich ein kleines Mädchen wäre und nicht eine
Dame! Soll ich mich von Hilda, Fanny und
Agnes von oben bis unten ansehen lassen?"
„Ah — die Töchter des Obersten von
Holleben sind auch dort?"
„Ja, Mama — und Du weißt, wie sie
auf alle Kaufleute herabsehen —"
„Ah, so — das ist freilich etwas anderes."
„Siehst Du!" triumphirte Tilli. „Wer hat
nun recht? Glaube mir doch, Mama, daß ich
immer ganz genau weiß, was ich zu thun und
zu lassen habe." Und Tilli reckte ihre schlanke,
zierliche Gestalt nach Möglichkeit höher.
„Ich glaube es ja, Kind!" autwortete die
schwache Mutter, eine leidend aussehende Frau.
Sie trat zum Fenster.
Jllustr. Welt. 1890. 23.


Entwischt. Gemälde von W. Müller. (S. 546.)
 
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