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KREIS WORMS
dem Leib und den Falten des Gewandes hervor zu kriechen scheinen. Ein Bal-
dachin ist über ihr, wie über der erstgenannten, das Postament zeigt die Relief-
skulptur eines Bockes, der Trauben frisst. Ihre Stellung auf dem Postament ist,
worauf schon Schneider aufmerksam machte, nicht mehr die ursprüngliche; sie
sieht jetzt nach der Treppe zum Portal hin. Früher sah sie nach vornen,
wie daraus hervorgeht, dass die kantige Sockelplatte der Figur dermalen nicht
mehr auf die entsprechenden Winkel des Konsols passt, sondern merklich ver-
schoben ist. Offenbar sollte das Getier auf dem Rücken besser sichtbar gemacht
werden. Über der erstgenannten Figur steht eine gekrönte Frau, eine Büchse in
der Linken, mit der Rechten zwei sehr viel kleiner dargestellten Bettelnden Kleider
herabreichend. Sie steht auf dem Baldachin der unteren Figur und ist mit einem
solchen Baldachin überdeckt. Ebenso ist die Anordnung bei der vierten Figur, die
über der Frau steht, deren Rücken voll Gewürm ist. Ihr fehlen alle erkennbare
Beigaben, da die linke Hand abgeschlagen ist und der Rest einer Beigabe in der
Rechten sich nicht mehr bestimmen lässt, doch bezeugt Wicelius, dass sie einen
Pfeil und ein Buch in Händen gehabt habe. Sie hat lang wallendes Haar und
eine Krone auf dem Haupt. Wicelius sah in dem zusammengehörigen Bildwerk
die werkthätige Liebe des neuen Bundes dem legalen Opfer des alten Testaments
und die biblische Wahrheit dem Truge der Häresie entgegengestellt; erstere erschienen
als die Sieger. Demnach erklärt er die Figuren so:
Hinten oben: Vornen oben:
Werkthätige Nächstenliebe. Wahrer Glauben.
Hinten unten : Vornen unten :
Synagoge. Häresie.
Falk erklärt die Figuren so:
Barmherzigkeit. Wahrheit.
Judentum. Heidentum.
In Barmherzigkeit und Judentum ist nach ihm die Kraftlosigkeit der Opfer
im alten Bunde in Gegensatz gestellt zu dem einzig wahren Opfer am Kreuz; Gott
genügt nicht die Beobachtung äusserer Formen beim Mangel innerer, zu Gottes-
und Nächstenliebe bewegender Uberzeugung. In den beiden anderen Gestalten ist
die Unwahrheit und Lüge des Heidentums in Kontrast gebracht zu der Wahrheit,
wie sie im göttlichen Wort enthalten ist. Beide Erklärungen können nicht voll-
ständig befriedigen. Zwar wird wohl die untere und hintere Figur mit Fug als
Judentum erklärt werden müssen, aber das üppige Weib vornen ist gewiss weder
Heidentum noch Häresie, sondern die Weltlust. Schneider hat im Korrespondenz-
blatt a. a. O. hieran gedacht und sich dabei auf das Gedicht Walters von der
Vogelweide berufen, welches die Absage an die Weltlust enthält *):
doch was der schänden alse vil
do ich dm hinden wart gewar,
daz ich dich iemer schelten wil.
Entscheidend ist die mittelhochdeutsche Erzählung des Konrad von Würz-
burg, in der einem ehrgeizigen und das Leben in Minnelust geniessenden Ritter
*) S. ioi bei Lachmann, 3. Ausg.
KREIS WORMS
dem Leib und den Falten des Gewandes hervor zu kriechen scheinen. Ein Bal-
dachin ist über ihr, wie über der erstgenannten, das Postament zeigt die Relief-
skulptur eines Bockes, der Trauben frisst. Ihre Stellung auf dem Postament ist,
worauf schon Schneider aufmerksam machte, nicht mehr die ursprüngliche; sie
sieht jetzt nach der Treppe zum Portal hin. Früher sah sie nach vornen,
wie daraus hervorgeht, dass die kantige Sockelplatte der Figur dermalen nicht
mehr auf die entsprechenden Winkel des Konsols passt, sondern merklich ver-
schoben ist. Offenbar sollte das Getier auf dem Rücken besser sichtbar gemacht
werden. Über der erstgenannten Figur steht eine gekrönte Frau, eine Büchse in
der Linken, mit der Rechten zwei sehr viel kleiner dargestellten Bettelnden Kleider
herabreichend. Sie steht auf dem Baldachin der unteren Figur und ist mit einem
solchen Baldachin überdeckt. Ebenso ist die Anordnung bei der vierten Figur, die
über der Frau steht, deren Rücken voll Gewürm ist. Ihr fehlen alle erkennbare
Beigaben, da die linke Hand abgeschlagen ist und der Rest einer Beigabe in der
Rechten sich nicht mehr bestimmen lässt, doch bezeugt Wicelius, dass sie einen
Pfeil und ein Buch in Händen gehabt habe. Sie hat lang wallendes Haar und
eine Krone auf dem Haupt. Wicelius sah in dem zusammengehörigen Bildwerk
die werkthätige Liebe des neuen Bundes dem legalen Opfer des alten Testaments
und die biblische Wahrheit dem Truge der Häresie entgegengestellt; erstere erschienen
als die Sieger. Demnach erklärt er die Figuren so:
Hinten oben: Vornen oben:
Werkthätige Nächstenliebe. Wahrer Glauben.
Hinten unten : Vornen unten :
Synagoge. Häresie.
Falk erklärt die Figuren so:
Barmherzigkeit. Wahrheit.
Judentum. Heidentum.
In Barmherzigkeit und Judentum ist nach ihm die Kraftlosigkeit der Opfer
im alten Bunde in Gegensatz gestellt zu dem einzig wahren Opfer am Kreuz; Gott
genügt nicht die Beobachtung äusserer Formen beim Mangel innerer, zu Gottes-
und Nächstenliebe bewegender Uberzeugung. In den beiden anderen Gestalten ist
die Unwahrheit und Lüge des Heidentums in Kontrast gebracht zu der Wahrheit,
wie sie im göttlichen Wort enthalten ist. Beide Erklärungen können nicht voll-
ständig befriedigen. Zwar wird wohl die untere und hintere Figur mit Fug als
Judentum erklärt werden müssen, aber das üppige Weib vornen ist gewiss weder
Heidentum noch Häresie, sondern die Weltlust. Schneider hat im Korrespondenz-
blatt a. a. O. hieran gedacht und sich dabei auf das Gedicht Walters von der
Vogelweide berufen, welches die Absage an die Weltlust enthält *):
doch was der schänden alse vil
do ich dm hinden wart gewar,
daz ich dich iemer schelten wil.
Entscheidend ist die mittelhochdeutsche Erzählung des Konrad von Würz-
burg, in der einem ehrgeizigen und das Leben in Minnelust geniessenden Ritter
*) S. ioi bei Lachmann, 3. Ausg.