Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 35.1919-1920

DOI Artikel:
Bernini als Lehrer
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.14153#0418

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
BERNINI ALS LEHRER

Das neu erschienene „Tagebuch des Herrn
von Chantelou" über die Reise Giov. Lo-
renzo Berninis nach Paris aus dem Jahre 1665
(Deutsche Bearbeitung von Hans Rose, Mün-
chen, F. Bruckmann 1919) gewährt einen lehr-
reichen Einblick in Berninis pädagogische Tätig-
keit und die Grundsätze, welche allgemein im
17. Jahrhundert bei der Gründung öffentlicher
Kunstschulen maßgebend waren. Als Aufgabe
der Akademie gilt vor allem die Erziehung zur
Idee des Schönen an Hand der antiken Vor-
bilder. Zweitens die Vermittlung handwerk-
licher Erfahrungen vom Meister an den Schüler,
die Erhaltung einer Tradition, die aus dem
Zunftbetrieb in die Sphäre des Schulwesens
emporwächst. Als drittes kommt ein gelehrtes
Element hinzu: akademische Dissertationen und
Vortragskurse, die heute zum Pflichtenkreis der
Universität gehören. In dem genannten Tage-
buch hat sich als eine der originalsten Partien
eine Ansprache erhalten, die Bernini in der
Kgl. Akademie der Maler und Bildhauer vor-
getragen und gegen Ende seines Pariser Be-
suches schriftlich niedergelegt hat. Sie wird
im folgenden abgedruckt und durch einige zu-
gehörige Stellen ergänzt.

Chantelou berichtet unter dem 5. Septem-
ber 1665:

„Am Fünften arbeitete der Cavaliere wie ge-
wöhnlich und abends besuchten wir die Aka-
demie. Die Herren du Metz, Nocret und Seve
empfingen ihn am Straßenportal als Vertreter
der Körperschaft. Der Cavaliere betrat zuerst
den Aktsaal, wo sämtliche Modelle die vorge-
schriebene Pose annahmen und ging, ohne sich
weiter aufzuhalten, in den Sitzungssaal hinüber.
Man bot ihm den Präsidentensessel an, aber
er dankte und wollte nicht Platz nehmen. Die
Gesellschaft war zahlreich; sogar der Herr
Stipendiatsrat Eliot war erschienen. Der Cava-
liere warf einen Blick auf die Gemälde im Saal,
die jedoch nicht als sonderlich talentvoll galten,
und betrachtete ein paar Reliefs aus der Bild-
hauerklasse. Dann trat er in die Mitte des Saales,
richtete sich auf und hielt vor versammelter
Akademie folgende Ansprache: ,Wenn Sie
meinen Rat hören wollen, meine Herren, dann
möchte ich der Akademie den Vorschlag machen,
Gipsabgüsse von sämtlichen schönen Antiken
anzuschaffen: Statuen, Reliefs und Büsten, da-
mit die jungen Leute daran lernen. Man läßt
sie die antiken Modelle abzeichnen, um ihnen
zunächst die Idee des Schönen beizubringen,

an die sie sich dann ihr ganzes Leben halten
können. Es hieße sie verderben, wenn man
sie von vornherein vor das Naturmodell setzt.
Die Natur ist fast immer matt und kleinlich
und wenn die Vorstellung der Schüler nur von
ihr genährt wird, werden sie niemals etwas
wirklich Schönes und Großes schaffen können,
denn die natürliche Welt vermag das nicht zu
bieten. Wer nach der Natur arbeitet, muß
schon sehr geschickt ihre Schwächen zu er-
kennen und zu verbessern wissen und eben
dazu sind die jungen Leute nicht befähigt,
wenn man ihnen keine feste Grundlage schafft.
Ich will meine Überzeugung mit einem Bei-
spiel belegen. In der natürlichen Erscheinung
kommt es zuweilen vor, daß Partien erhaben
sind, die flach sein sollten, und andere umge-
kehrt flach sind, die erhaben sein sollten. Wer
nun vom Zeichnen den rechten Begriff hat,
läßt fort, was die Natur zwar bietet, aber nicht
bieten sollte, und verstärkt umgekehrt, was da
sein sollte und nicht herauskommt. Und dazu
— ich wiederhole es — sind junge Leute nicht
imstande, wenn sie die Idee des Schönen nicht
erfaßt und begriffen haben. In früher Jugend
zeichnete ich viel nach der Antike. Wie ich
dann meine erste selbständige Figur modellierte,
befragte ich, so oft mir etwas unklar oder
zweifelhaft war, den Antonius wie ein Orakel
und bemerkte an diesem Bildwerk von Tag zu
Tag neue Schönheiten, die ich weder gesehen
hatte, noch jemals gesehen hätte, solange mein
Meißel nicht selbständig arbeitete. Drum rate
ich meinen und allen andern Schülern stets,
sich nicht gänzlich auf Abzeichnen und Nach-
formen zu beschränken, sondern selbständige
Arbeiten nebenher laufen zu lassen: Skulp-
turen, Gemälde und dergleichen. So mischt
man Produktion und Imitation oder mit andern
Worten: Handlung und Betrachtung, und dar-
aus ergeben sich Fortschritte, die erstaunlich
sein können.' — ,Allerdings,' warf ich ein,
,wer nicht selbständig arbeitet, geht zurück.
Da brauche ich als warnendes Beispiel nur an
den verstorbenen Antoine Carlier zu erinnern,
der den meisten der Herren noch bekannt sein
wird. Er hielt sich den größten Teil seines
Lebens in Rom auf und beschäftigte sich mit
dem Abformen der schönen römischen Antiken.
Seine Modelle sind unerreicht gut. Aber die
Herren werden mir zugeben müssen, daß durch
die sklavische Nachahmung sein Geist erstarrt
und seine schöpferische Kraft geschwunden

389
 
Annotationen