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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 36.1920-1921

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Fechter, Paul: Ernst Barlach
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https://doi.org/10.11588/diglit.14150#0152

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ERNST BARLACH

RUSSISCHE BETTLERIN (BRONZE)

ERNST BARLACH

Als die Arbeiten des Bildhauers Ernst Barlach
l zuerst auftauchten, seine russischen Bettler
und Pilger, diese zu schweren ungegliederten
Massen zusammengeballten Gestalten, die kaum
noch wie Menschen, eher wie gebundener Raum
wirkten : da empfand man als Hauptzug in ihm
den Willen zum Stil, zur Form jenseits der
Natur und über die Natur hinaus. Als der
Krieg uns nach Rußland verschlug, in die Grenz-
städte Europas, zwischen Polen und dem Be-
ginn des eigentlichen Ostens : da stellte man
mit halbem Erstaunen fest, daß überall an den
Straßenecken, auf den Kirchentreppen, auf den
Friedhöfen zu Allerseelen diese Gestalten Bar-
lachs als schaurige Wirklichkeit hockten. Was
dort als Stil erschien, war hier zugleich Natur:
ein Stück Realität war durch einen Menschen
mit besonderen Augen und besonderer Seele
hindurchgegangen, hatte in ihm das zurückge-
lassen, was als Form Ausdruck seines Wesens
war — und dieses wiederum war im Werk
niedergelegt. Ein Stück der Welt war Vision
geworden — und eben diese Vision war seine
Form im Werk geworden. Persönlichstes Er-

Die Wiedergabe von Werken Barlachs in diesem Aufsatz
erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Kunsthandlung Paul
Cassirer in Berlin.

leben (in dieser Vision) hatte sich in ein all-
gemein Verbindliches, allgemein Auffaßbares in
der formalen Bindung des Werkes gewandelt.

Das Wort Vision gehört zu den meist miß-
brauchten heutiger Kunstbetrachtung. Gerade
vor dem Werk Barlachs kann man es schwer
entbehren : man darf es hier aber mit vergleichs-
weise ruhigem Gewissen gebrauchen, weil es
vor seinen Arbeiten in seinem lebendigen Sinn
am leichtesten faßbar wird. Es ist im Grunde
(zunächst wenigstens) nichts weiter als eine
Umschreibung für das Plus, das die sehende
Weltauffassung eines künstlerischen Menschen
vor der des nicht produktiven voraus hat. Vi-
sion ist hier nicht Wahrnehmung nicht vor-
handener Dinge, sondern ist die ganz beson-
dere, in diesem Künstler zum erstenmal Er-
lebnis werdende, bis dahin von anderen nicht
gesehene Art und Weise, in der ein Stück der
Welt sich diesen besonderen Augen, dieser be-
sonderen Seele darstellt. Eine Landschaft, ein
Gesicht, eine Gestalt steht plötzlich geheimnis-
voll, erschreckend, gewissermaßen zum ersten-
mal auf der Welt, vor diesem Menschen da :
dies Erstmalige, Unmittelbare nimmt seinen
geheimnisvollen Weg durch die Seele und
die Hände des Schaffenden und steht als Stil,

Die Kunst für Alle. XXXVI.

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