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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 36.1920-1921

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Fechter, Paul: Ernst Barlach
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https://doi.org/10.11588/diglit.14150#0154

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ERNST BARLACH

BETTLERIN MIT KIND (BRONZE)

als Form, als Ausdruck vor uns anderen —
also daß wir jetzt ebenfalls, sekundär, einen
Schatten der Vision zu erleben vermögen. Hät-
ten wir die russischen Bettler früher gesehen
als Barlachs Darstellungen von ihnen, wir hätten
ihre Form, ihren „Stil" nicht erfaßt. Erst hinter-
her waren unsere Augen zu dem verwandten
Erlebnis imstande, nach jenem Worte Hofmanns-
thals : „Das macht, er lehrte uns die Dinge
sehen." Oder vielmehr sein Werk tat es, die
am Materiellen verfestigte Vision seiner Seele.

Diese Deutung des Begriffs Vision umschreibt
indessen nur einen Teil der Wesensart Barlachs.
Denn Vision in diesem Sinne ist zuletzt allen

künstlerischen Menschen gemein; sie trägt das
Werk des Naturalisten so gut wie das des Sym-
bolisten, den Impressionismus ebenso wie sein
Gegenspiel, den Expressionismus. Bei Barlach
kommt noch ein besonderes hinzu, etwas, das
den Geltungsbereich des Begriffs noch erheb-
lich erweitert. In dieses visionäre Erlebnis näm-
lich, das beim naturalistischen Künstler rein
diesseitig, innerhalb des Bereichs der Erfahrung
und der realen Welt verbleibt, kommt bei Bar-
lach etwas Tieferes: das Stück Natur, als Vision
erlebt, wird in dieser Vision plötzlich gewisser-
maßen durchsichtig; es wird jenseits seiner
natürlichen Existenz auf einmal Ausdruck, Er-

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