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Die Kunst für alle: Malerei, Plastik, Graphik, Architektur — 58.1942-1943

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Christoffel, Ulrich: Kern und Schale in der Plastik
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https://doi.org/10.11588/diglit.16491#0248

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Hermann Gradl. Spaziergang

Groß© Deutsche Kunstausstellung München 1943

Kern und Schale in der Plastik. Von Ulrich Christoffei

Bei der griechischen Plastik ruht jede Gestaltung in
ihrem eigenen Gleichgewicht, und die sichtbare Ober-
fläche der Körper bildet sich organisch aus dem innern
Zusammenhang und Aufbau der Formen. Die Schale
wächst aus dem Kern hervor. Auch die Bronze besitzt
das kernhafte Schwergewicht des Gesteins. Mit dem
äußeren Motiv der plastischen Figur, ob diese bewegt
oder unbewegt dargestellt ist, hat dieses Buhen im
Kern nichts zu tun. Die griechische Plastik war von
derselben Leidenschaft wie das griechische Drama er-
füllt und verlangte nach spannungsvoller Bewegtheit.
Im Diskuswerfer von Myron ist in der zugespitzten
Krümmung des Körpers schon eine sportliche Körper-
haltung auf die gewagteste plastische Bewegtheit ge-
bracht, aber diese Bewegung kreist um den innern
Kern der Figur und jede Bundung der Schale ist be-
dingt durch die Gesamtheit aller Kräfte- und Form-

beziehungen am Körper. Mit der Kernhaftigkeit der
Form hängt die geschlossene Bildwirkung der Figur
zusammen. Selten hat die Plastik in der nachantiken
Zeit dieses hohe Gleichgewicht von Kern und Schale
wieder erreicht. Die gotischen Figuren hängen meist
ohne eigene Standfestigkeit an den Pfeilern der Por-
tale und sind mehr in den Stein gezeichnet als aus
dem Stein geformt. Sie scheinen aus der Idealität der
Goldmosaiken zaghaft in den Stein übersetzt und wol-
len sich mit der schwerern Alaterie kaum vermischen.
Bei den späten Holzfiguren in den Schreinen ist der
Kern vollends verflüchtigt zu einem ornamentalen
Spiel der Falten und Farben und reflektierenden
Lichter.

Die italienische Plastik näherte sich seit dem 15. Jahr-
hundert wieder dem antiken Ideal einer kernhaften
Eigenbildung der Form. Für die neuzeitliche Plastik

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