Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Universität Wien / Institut für Österreichische Geschichtsforschung [Editor]
Kunstgeschichtliche Anzeigen — 1.1904

DOI article:
Wickhoff, Franz: [Rezension von: Michelangelos Kruzifix entdeckt, Kunstchronik 15. Jahrgang, 1905-1904, Nr. 25, S. 339-400]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.51382#0108

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
100

fischt hat, darunter ist doch auch die italienische?“ »»Beruhige dich,
strenger Leser, zuweilen findet auch ein blindes Huhn ein Körnchen, tritt
nur ein in den Chor von Santo Spirito.<<<! Der Zweifler folgt mit Zau-
dern, er fürchtet nicht viel des Guten zu sehen und findet sich vor einem
entzückenden Kunstwerk. In bewegten Umrissen hängt der Körper, von
den Händen gehalten und weit nach vorne gefallen, so dass er sich vom
Kreuze loslöst, mit nach links geworfenen Beinen, die der dritte Nagel,
der durch die Füsse geht, wieder zusammen hält, eine treffliche Roccoco-
figur aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Jede Linie, jede Form
bezeichnet diese Zeit. Das Lendentuch ist durch einen Strick gesteckt,
mit kühnen Maschen, wie bei einem koketten Fahnenjunker. Der Autor
mag sich selbst gesagt haben, dass diese heitere Pracht zur tiefen Trauer
des Gegenstandes nicht wohl passe, und bildete als Gegengewicht das Ge-
sicht mit hoher Stirn nach einem ernsten giottesken Typus und umrahmte
es mit gedrehten Locken, die dem Zuge der Schwerkraft nicht gehorchen.
Das befremdet bei dem ersten Anblick. Doch tritt man zur Seite und
betrachtet das Werk im Profil, die entzückende Rückenlinie, das feine
Näschen, die Dornenkrone, die wie ein zierliches Brautkränzchen auf dem
Haupte liegt, so ist man wiederum von dieser Roccocofigur hingerissen,
die an Zierlichkeit mit dem sächsischen Porzellane wetteifert. Einen mo-
dernen Künstler, der mit seinen Werken von Ausstellung zu Ausstellung
wandern muss, immer ungewiss des Lichtes in das seine Figur kommen
wird, könnte der Neid erfassen, wenn er sieht, wie hier die Anatomie
zielbewusst für den düsteren Aufstellungsort gebildet ist, überall ist für
scharfe Ränder gesorgt, auf denen das von oben herstreifende Licht ver-
weilen kann, und wo die Natur solche schmale Gränzflächen nicht gibt,
wie. am unteren Bauchrande, wurden sie eben frei erfunden. Die ganze
Figur ist voll dieses dekorativen Feinsinnes, wie er sonst in dieser Zeit
mehr in der deutschen und französischen Kunst zu Hause ist, als in der
italienischen. Aber da hätte ich in meiner Liebe zur Plastik des 18. Jahr-
hunders bald vergessen, dass Thode für seine Ansetzung um 250 Jahre
zurück einen urkundlichen Beweis zu haben vorgibt. Das ist nun frei-
lich nicht der Fall, es ist keine Urkunde vorhanden, sondern Richa er-
zählt 1759 in seinem Werke über die florentinischen Kirchen, dass man
die Absicht habe, das Kruzifix Michaelangelos, das sich damals in der Sa-
kristei von Santo Spirito befand, im Chor der Kirche aufzustellen. Eine
Nachricht über eine Absicht ist noch lange kein Beweis für ein Gescheh-
nis. Bileam hatte die Absicht seine Eselin zu tödten, aber das gute Tier
würde noch heute leben; wenn es nur durch das Schwert, das er sich dazu
wünschte, hätte umkommen können.
Warum es nicht zu dieser Aufstellung gekommen, wissen wir nicht,
vielleicht hat das alte von Würmern zerfressene Holzwerk dem Transport
nicht Stand gehalten. Eines beweist die Nachricht, dass der Platz des
Kruzifixes im Chore damals unbesetzt war und gibt damit die ungefähre
Datirung des jetzt dort aufgestellten Werkes. Um 1760, das stimmt voll-
kommen mit dem Stile. Man glaubt, wenn man die Zuschreibung an
Michelangelo hört, ein Spassvogel habe sie gemacht. Es war aber ein
unfreiwilliger.

Venedig.


Franz Wickhoff.
 
Annotationen