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geschickte als Wissenschaft und verleiht neue Anspornung dem sie über-
flutenden Diletanttismus, wenn, ohne festgenagelt zu werden, der Versuch
gewagt werden dürfte, in Fragen, in welchen durch lange Bemühungen
ausgezeichneter Forscher einigermassen Ordnung geschaffen wurde, will-
kürlich und leichtfertig das alte Chaos wieder zu etabliren.
Dass ein solcher Versuch überhaupt noch geschehen kann, ist eine
indirekte Folge jener Bücher, die es mit der »starren Forderung« der
Wissenschaftlichkeit nicht gar zu ernst nehmen. Wenn in kunstgeschicht-
lichen Fragen ein Professor der Kunstgeschichte schreiben kann, was ihm
beliebt, warum sollte es einem Professor der Anatomie verwehrt sein? Das
ist die Lehre des besprochenen Buches, die »Mahnung an den verstän-
digen Leser« wie man einst zu sagen pflegte.
Wien. Max Dvotäk.
Julius Lange, Die menschliche Gestalt in der Geschichte der Kunst
von der zweiten Blütezeit der griechischen Kunst bis zum 19- Jahr-
hundert. Herausgegeben von P. Köbke, aus dem Dänischen über-
tragen von Mathilde Mann. Strassburg i. E. 1903. J. H. Ed. Heitz
(Heitz & Mündel), 4°. X und 151 SS. 98 Tafeln mit 173 Zinkos.
Wer sich den mächtigen Eindruck lebendig zurückzurufen weiss, den
die deutsche Übersetzung von Julius Langes Studien über die Darstellung
des Menschen in der älteren griechischen Kunst hervorbrachte, wird etwas
enttäuscht sein, wenn er die Fortsetzung dieser Arbeit zur Hand nimmt,
die von P. Köbke aus dem Nachlasse des geistvollen Archäologen zusam-
mengestellt wurde und die das Thema bis ins 19. Jahrhundert fortführt.
Lange war im Mittelalter und der Neuzeit mit dem Materiale weniger ver-
traut und man kann nicht sagen, dass er in der Darlegung der Entwick-
lung viel weiter gekommen wäre, als wie etwa Schnaase in seiner grossen
Kunstgeschichte. Das Buch enthält viele feine Bemerkungen und edle Dar-
stellungen einzelner Perioden oder einzelner Künstler, aber das Zwingende
des Entwicklungsganges aufzuweisen, wie es ihm für die älteste Kunst ge-
lungen, hat er hier nicht vermocht. Das beste ist wieder der erste Ab-
schnitt, der von griechischer Kunst handelt und zwar von ihren späteren
Perioden, wo die Hauptidee des ganzen Buches, dass alle Entwicklung und
Änderung in der darstellenden Kunst ethisch bedingt sei, am deutlichsten
durchgeführt wird. »Das, worauf das Altertum bei dem Menschen den
grössten Wert legte,« sagt er, »war, dass er sich selbst gleich
blieb.« Er scheint mir zu weit zu gehen, wenn er aus diesem Axiom
selbst noch die relative Unbewegtheit der pompeianischen Kompositionen er-
klären will. An anderen Stellen wird auch der Grund des Wandels, der
in geschichtlichen Ereignissen liegt, ohne Pedanterie zugestanden, besonders
dort, wo er den Eindruck der Barbareneinfälle auf die antike Welt schil-
dert. Der psychologische Grund der Entwicklung, der auf Steigerung oder
Erschöpfung der Reize beruht, wird jedoch ganz vernachlässigt, noch mehr
der der inneren Entwicklung durch Aufnahme und Eintragung immer neuer
Beobachtungen, die an dem Naturvorbilde gemacht werden und den Über-
geschickte als Wissenschaft und verleiht neue Anspornung dem sie über-
flutenden Diletanttismus, wenn, ohne festgenagelt zu werden, der Versuch
gewagt werden dürfte, in Fragen, in welchen durch lange Bemühungen
ausgezeichneter Forscher einigermassen Ordnung geschaffen wurde, will-
kürlich und leichtfertig das alte Chaos wieder zu etabliren.
Dass ein solcher Versuch überhaupt noch geschehen kann, ist eine
indirekte Folge jener Bücher, die es mit der »starren Forderung« der
Wissenschaftlichkeit nicht gar zu ernst nehmen. Wenn in kunstgeschicht-
lichen Fragen ein Professor der Kunstgeschichte schreiben kann, was ihm
beliebt, warum sollte es einem Professor der Anatomie verwehrt sein? Das
ist die Lehre des besprochenen Buches, die »Mahnung an den verstän-
digen Leser« wie man einst zu sagen pflegte.
Wien. Max Dvotäk.
Julius Lange, Die menschliche Gestalt in der Geschichte der Kunst
von der zweiten Blütezeit der griechischen Kunst bis zum 19- Jahr-
hundert. Herausgegeben von P. Köbke, aus dem Dänischen über-
tragen von Mathilde Mann. Strassburg i. E. 1903. J. H. Ed. Heitz
(Heitz & Mündel), 4°. X und 151 SS. 98 Tafeln mit 173 Zinkos.
Wer sich den mächtigen Eindruck lebendig zurückzurufen weiss, den
die deutsche Übersetzung von Julius Langes Studien über die Darstellung
des Menschen in der älteren griechischen Kunst hervorbrachte, wird etwas
enttäuscht sein, wenn er die Fortsetzung dieser Arbeit zur Hand nimmt,
die von P. Köbke aus dem Nachlasse des geistvollen Archäologen zusam-
mengestellt wurde und die das Thema bis ins 19. Jahrhundert fortführt.
Lange war im Mittelalter und der Neuzeit mit dem Materiale weniger ver-
traut und man kann nicht sagen, dass er in der Darlegung der Entwick-
lung viel weiter gekommen wäre, als wie etwa Schnaase in seiner grossen
Kunstgeschichte. Das Buch enthält viele feine Bemerkungen und edle Dar-
stellungen einzelner Perioden oder einzelner Künstler, aber das Zwingende
des Entwicklungsganges aufzuweisen, wie es ihm für die älteste Kunst ge-
lungen, hat er hier nicht vermocht. Das beste ist wieder der erste Ab-
schnitt, der von griechischer Kunst handelt und zwar von ihren späteren
Perioden, wo die Hauptidee des ganzen Buches, dass alle Entwicklung und
Änderung in der darstellenden Kunst ethisch bedingt sei, am deutlichsten
durchgeführt wird. »Das, worauf das Altertum bei dem Menschen den
grössten Wert legte,« sagt er, »war, dass er sich selbst gleich
blieb.« Er scheint mir zu weit zu gehen, wenn er aus diesem Axiom
selbst noch die relative Unbewegtheit der pompeianischen Kompositionen er-
klären will. An anderen Stellen wird auch der Grund des Wandels, der
in geschichtlichen Ereignissen liegt, ohne Pedanterie zugestanden, besonders
dort, wo er den Eindruck der Barbareneinfälle auf die antike Welt schil-
dert. Der psychologische Grund der Entwicklung, der auf Steigerung oder
Erschöpfung der Reize beruht, wird jedoch ganz vernachlässigt, noch mehr
der der inneren Entwicklung durch Aufnahme und Eintragung immer neuer
Beobachtungen, die an dem Naturvorbilde gemacht werden und den Über-