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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 8.1965

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Nr. 3
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Helm, H.: [Rezension von: Friedrich von der Leyen, Das deutsche Märchen und die Brüder Grimm]
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https://doi.org/10.11588/diglit.33070#0051

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Die Märclien der Weltliteratur

Herausgegeben von Friedrich von der Leyen. Ergänzungsband

Friedrich von der Leyen: Das deutsche Märchen und die Brüder Grimm. Düsseldorf
1964.

Das Buch lebt — trotz aller Vorbehalte — von der Hoffnung, des deutsche Märchen
der Brüder Grimm sei es wert, eine neue Auferstehung zu erleben.

Zwar verschließt sich der Verfasser nicht der Tatsache, daß es lebendiger Besitz
höchstens noch bei einigen alten Leuten ist, doch findet er für seine Zukunftserwartun-
gen nicht ganz unberechtigte Begründungen in der Fülle der Märchenmotive, in ihrer
geheimnisvollen Verwurzelung in der mythischen Welt und in der angemessenen und
lebendigen Darstellung durch die Briider Grimm. Die Untersuchung der einzelnen deut-
schen Märchen nach ihrem Ursprung, ihrer geographischen Verbreitung, ihren ver-
schiedenen Fassungen und oft auch ihrer Deutung ist die Hauptaufgabe des Buches.
Die großen Verbindungslinien werden infolge der inhaltlichen Stoffmenge nicht immer
ganz deutlich gezogen, doch entstehen sie leicht beim Lesen oder Nachschlagen, wozu
sich das Werk besonders eignet, von selbst, etwa die Erfahrung, daß bei einem Ver-
gleich der Märchenmotive die Einheit der bedeutenden Kulturen von Indien bis Mexiko
sichtbar wird, die für die biblische Überlieferung aufschlußreiche Erkenntnis, daß die
Schlange seit ältester Zeit als Schutzgeist angesehen wird, im babylonischen Bereich
sogar im Besitz des Krautes der Unsterblichkeit ist oder auch die Wichtigkeit des Mär-
chennamens vom Niemand des Odysseus bis zu Rumpelstilzchen.

Im Vorwort über die Entstehung und Herkunft der Kinder- und Hausmärchen der
Brüder Grimm wird versucht, das Wesen des Märchens zu ergründen und den chrono-
logischen Dreischritt Mythos-Märchen-Sage nachzuvollziehen sowie die als Entwun-
derung des Märchens bekannte Entwicklung anzudeuten, in der aus Göttern Riesen und
aus Göttinnen Hexen oder Zauberinnen werden. Die Feststellung, die Welt der Tiere -
Hauptträger des Märchengeschehens - bestand schon vor der Welt der Götter oder der
Hinweis, die Rettung Rotkäppchens ist eine spätere Zutat, eröffnet neue Perspektiven
zum Verständnis mancher künstlerischer Aussage auch unserer Zeit, doch hält sich das
Buch erfreulicherweise streng an die sachliche Darstellung der Märchen und überläßt
dem Leser die mögliche gedankliche Ausweitung.

Über die Verwendung der Märchen - auch der antiken - in der häuslichen oder
schulischen Erziehung sind schon viele Bedenken geäußert worden, es lohnt sich aber,
die Meinung des Verfassers darüber kennenzulernen.

Die Grausamkeit als Erbe der mythischen Vorzeit — z. B. Medea — ängstigt zarte
Kinder gewiß sehr, docli die hier ohne nähere Erklärung als gesund bezeichneten Kin-
der, die noch in einer prämoralischen Welt leben, erfassen die Strafen als ebenso un-
wirklich und am Ende auch komisch wie die Märchen selber. Bei den Kindern wird die
mehr oder weniger bewußt vorhandene Grausamkeit nicht gesteigert, sondern zu Über-
raschung und Verwunderung geführt, denn wie oft werden die abgeschlagenen Köpfe
wieder aufgesetzt und der Getötete neu belebt. Sollte dieser günstige Einfluß der Mär-
chen in der modernen Welt der dauernden agressiven Reizung, die durch die Betonung
der Realität - etwa in Film und Fernsehen - das Grausame nur mühsam und meist
unglaubwürdig zu überwinden versucht, nicht stärker als bisher ausgenutzt werden?
Das Buch, wenn es auch nur als Ergänzungsband das Fabelgerüst von etwa 200 Märchen
bietet, könnte Mut dazu machen! H. Helm

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