Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 8.1965

DOI Heft:
Nr. 3
DOI Artikel:
Semler, Wolfgang: Strukturwandel bei den Höheren Schulen?: ein Diskussionsbeitrag
DOI Artikel:
Apffel, Helmut: Strukturwandel bei Höheren Schulen: liegt das Altsprachliche Gymnasium wirklich schon in den letzten Zügen?
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.33070#0044

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
prozeß unserer eigenen Welt gewissermaßen aufhalten zu können. Aber wir akzeptier-
ten in Wahrheit aus der Antike nur, was uns sozusagen genehm und adäquat war und
wo dies nicht gelang, deuteten wir die Antike in unsere eigene Vorstellungswelt um.
Hätten wir z. B. die antiken Statuen, die wir ausgruben, mit den grellen Farben
naturalistisch bemalt, wie sie es ursprünglich waren, so hätte Winkelmann schwerlich
von ihrer „edlen Einfalt und stillen Größe“ geschrieben. Nicht zuletzt aber deshalb,
weil unsere gewaltigen Plastiken von Michelangelo bis Rodin die Farbe nicht kennen,
sondern den Marmor sprechen Iassen, sind es unsere Plastiken. Der Säule, die in der
Antike den Eingang zum Tempel verstellte, haben wir einen geleitenden und - ge-
legentlich - sogar nur ornamentalen Charakter gegeben und wir nahmen lange nicht
zur Kenntnis, daß Thukydides zwar großartig die Geschichte seiner eigenen Zeit, näm-
lich einen Teil des peloponnesischen Krieges, beschrieb, aber gleichzeitig, wie er selbst
feststellt, des Glaubens war, daß vordem sich nichts von Bedeutung ereignet habe.
Dabei waren aber in der eigenen griechischen Geschichte z. B. die Perserkriege als ganz
entscheidende Ereignisse vorausgegangen. Daß Plato in seinem berühmten Buch vom
Staat sich einen solchen nicht ohne Sklaven vorstellen konnte, schien uns ohne große
Bedeutung zu sein.

Unter dem Mimikry der Antike und im Glauben, ihr nachzueifern, haben wir viel-
mehr unsere eigenen Ideale und Vorstellungen entwickelt, an unserer eigenen Welt
weitergebaut. Man wird zugeben, daß unsere olympischen Spiele von heute, trotz ihres
Namens, ihres Amateurstatutes und des olympischen Feuers herzlich wenig mit dem
„Fest der Wagen und Gesänge“ im alten Griechenland zu tun haben. Im Streben nach
antiken Idealen hat das Abendland einen großartigen und erhabenen Traum durch gut
vier Jahrhunderte geträumt. In uns'erer Wirklichkeit trug dieser Traum unerhörte
Frucht, eben das, was wir Humanismus und Humanität nennen. Aber sowenig Goethes
Iphigenie außer dem Handlungsgerüst etwas mit der Iphigenie des Euripides zu tun
hat, so wenig hat unser Humanismus etwas mit dem gemein, was dieAntike wirklichwar.

Wenn die moderne Geschichtsforschung die wirklichen Tatbestände ans Licht för-
derte und damit die Ablösung des humanistischen Bildungsideals von der Antike ein-
leitete, so hat sie damit nicht unsere Welt entgöttert, sondern sie nur in einem sehr
viel tieferen Sinn zu der unsrigen gemacht als sie es zuvor war. Und wenn wir uns
heute in wachsendem Umfang vom Altsprachlichen Gymnasium abwenden, dann des-
halb, weil wir das humanistische - nicht das antike - Ideal als unser Ideal auch in
anderen Gymnasien vorhanden wissen als einen der tiefsten Wesensgründe unserer
Kultur, im ganzen, dem niemand entraten kann, der in unsere Welt, die christlich-
abendländische Welt, hineingeboren wurde.

Strukturwandel bei Höheren Scliulen?

(Erschienen im „Pfälzischen Merkur“, 6. 2. 65)

Liegt das Altsprachliche Gymnasium wirklich schon in den letzten Ziigen?

Nicht selten wird Nietzsches Wort zitiert: „Was fallen will, das soll man audi noch
stoßen.“ Diesen - unerbetenen - Liebesdienst scheint Wolfgang Semler in seinem Dis-
kussionsbeitrag „Strukturwandel bei den Höheren Schulen?“ dem altsprachlichen Gym-
nasium erweisen zu wollen; der Tenor seiner Ausführungen läuft jedenfalls darauf
hinaus.

Nun, solche Angriffe sind nicht neu, sie sind meistens - wie auch der obige Dis-
kussionsbeitrag - emotional so stark aufgeladen, daß ein Kritiker weithin auf diese
 
Annotationen