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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 26.1983

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Nr. 3
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Prutscher, Uwe: Zur Briefliteratur im Lateinunterricht
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https://doi.org/10.11588/diglit.33083#0069

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Es wird hier nicht der ausschließlichen Beschränkung auf den Privatbrief
das Wort geredet, doch bei ihm muß das didaktische Bemühen ansetzen, weil in
ihm der dichteste Bezug besteht zwischen Inhalt und Gattung. Interessant ist in
diesem Zusammenhang die im Kern noch authentische Korrespondenz des
jüngeren Plinius, nicht gerade zum Fenster hinaus geschrieben, aber zweifellos
bereits auf der literarischen Fensterbank konzipiert.
Die Öffnung der ursprünglich .privaten1 Gattung auf einen sich verbreitern-
den Adressatenkreis bis hin zur Weltöffentlichkeit der philosophischen Epistel
oder dem erhofften großen Publikum des Offenen Briefes läßt sich an einer
überschaubaren Zahl von Beispielen demonstrieren. Auch gattungstheoretisch
interessant sind die Apostelbriefe des Neuen Testamentes, ebenso bischöfliche
Hirtenbriefe und Enzykliken der Päpste. Noch weithin ungehoben für den Un-
terricht ist das bedrückende Vermächtnis der Märtyrerbriefe, neben beispiel-
haften Korrespondenzen der Kirchenväter, ob mit der Eleganz eines Hierony-
mus komponiert oder mit augustinischer Verve von der Seele geschrieben.
Kultur- und rechtsgeschichtlich von großer Bedeutung ist die Entwicklung
der frühmittelalterlichen Herrscherurkunde aus den Reskripten der kaiserlichen
Kanzlei: „Brief und Siegel“ — wie in der Urkunde schlechthin das gattungsty-
pische Briefformular zu greifen ist. Zu den vielen sonstigen Derivaten der Brief-
form gehören nicht von ungefähr sowohl die Gesetzespublikation als auch das
private Testament.
Die Brieffiktion war es, deren sich Francesco Petrarca souverän bediente, als
er in den bekannten Briefen an Cicero seiner Erschütterung über den Privat-
mann Marcus Tullius freien Lauf ließ2. Der Epik hat die Briefgattung die unver-
wüstliche Fiktionsform des Briefromans geliefert. Allein an diesem Beispiel
wird die fortzeugend formale Fruchtbarkeit einer Gattung für die Gesamtlite-
ratur evident.
Nicht thematische Bezugsmöglichkeiten oder Autorenauswahl sollten den
Ausschlag geben, sondern die genuine Leistungsfähigkeit der Gattung an sich
wäre der Ausgangspunkt, wenn es gilt, den multiplen Einsatz der Briefe im Un-
terricht von der Aura des didaktischen Vagabundismus zmbefreien. In der Ära
der Telefone, Ticker und automatisierten Sprachlosigkeit könnte der Brief als
Gattung und die nachdrückliche pädagogische Ermunterung, selbst wieder Brie-
fe zu schreiben, einen kontrastiven Beitrag leisten zur unabdingbaren Kultur
der Begegnung, ohne die eine Gesellschaft zum Agglomerat verkommt. Ein
Grundanliegen des Briefes als Gattung und ein Gmndbedürfnis der Gattung
Mensch hat ein leidenschaftlicher Profi der Epistolographie bündig Umrissen:
Epistularum genera multa esse non ignoras,
sed unum illud certissimum, cuius causa inventa res ipsa est:
ut certiores faceremus absentes, si quid esset,
quod eos scire aut nostra aut ipsorum interess'et. “3
Dr. Uwe Prutscher, Speyer
2 Vgl. AU XXI/1978 Heft 1,S. 30ff. und Beilage S. 8-10. 3 Cicero, Farn. II, 4,1.

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