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Einführung
Trend: Aufgrund des weitgehenden Versiegens arabischer Quellen unter den
Staufern und Anjou beschäftigten sich islamwissenschaftlich geprägte Histori-
ker kaum mit den süditalienischen Muslimen jener Periode;6 und aufgrund
fortbestehender nationaler Konventionen blieb das Interesse der in der Südita-
lienforschung einflussreichen englischen und französischen Wissenschaftler
weitgehend auf die Zeit der Normannen beschränkt, die ja auch in den Natio-
nalhistorien Englands und Frankreichs eine Rolle spielten.7 Die Stauferzeit fiel
durch dieses Raster, und auch deutsche Historiker bemühten sich bis vor kurzem
kaum um Kompensation des Ungleichgewichts.8 Die Anjoukönige schließlich
erschienen den Italienern und Deutschen lange als ungeliebte Eroberer und
Fremdherrscher, während sie von Franzosen überwiegend als königliche Ne-
benlinie gesehen wurden; so weckte auch die angiovinische Ara weniger For-
schungsbegeisterung als die Normannenzeit.
All dies hatte das genannte Ungleichgewicht zur Folge: Gegenüber den
Muslimen insbesondere der Iberischen Halbinsel, aber auch der Levante und des
normannischen Sizilien wurde die muslimische Präsenz im staufisch-angiovi-
nischen Süditalien vernachlässigt. Zu ihr existieren lediglich zwei vergleichs-
weise umfassende Studien von hohem Niveau, wobei die erste schon über
100 Jahre alt ist: 1911 bis 1914 - also noch in monarchischer, kolonialer Zeit -
veröffentlichte der Süditaliener Pietro Egidi seine Untersuchung „La colonia
saracena di Lucera e la sua distruzione"9. Nach einem Überblick zur Geschichte
der Muslime ab der späten Normannenära rückt er das dramatische Ende der
süditalienischen muslimischen Präsenz in den Fokus. Dabei überzeugt Egidi,
zugleich Herausgeber des entscheidenden Quellenkorpus für die Endphase des
muslimischen Lucera,10 zwar mit profunder, in späterer Zeit oft nicht mehr
eingeholter lateinischer Quellenkenntnis; doch können seine Urteile ihre Zeit-
gebundenheit nicht verhehlen, sobald sie etwa orientalistische Deutungssche-
mata aufgreifen oder das Anjoukönigtum als Präfiguration der Fremdherr-
schaft' des italienischen Zentralstaats über Süditalien abqualifizieren. So er-
scheint eine Aktualisierung der Ergebnisse Egidis nötig, zumal in den letzten 100
Jahren natürlich neue historische und archäologische Ansätze, Quellen und Er-
kenntnisse hinzugekommen sind.
6 VgL nur die anders gelagerten Schwerpunkte von Amari, De Simone, Johns, Mandalä, Metcalfe
und Nef; intensiver interessiert war allenfalls Gabrieli; zu Salierno und Staccioli / Cassar unten bei
Anm. 12 f.
7 Eine Ausnahme bildete Abulafia; vgL neben oben Anm. 5: Abulafia, The End of Muslim Sicily;
Abulafia, Ethnie Variety and Its Implications; Abulafia, The first Servi Camere Regie; Abulafia, The
Last Muslims in Italy.
8 VgL explizit nur die Aufsätze: Houben, Möglichkeiten und Grenzen religiöser Toleranz; Houben,
Neue Quellen zur Geschichte; Göbbels, Der Krieg Karls I. von Anjou; erst neuerdings Clemens /
Matheus, Christen und Muslime, bzw. Matheus / Clemens, Musulmani e provenzali in Capitanata;
Scheller, Assimilation und Untergang; Clemens u. a., Bischofssitz und muslimische Adelsresi-
denz.
9 Egidi, La colonia saracena di Lucera.
10 VgL CDSL.
Einführung
Trend: Aufgrund des weitgehenden Versiegens arabischer Quellen unter den
Staufern und Anjou beschäftigten sich islamwissenschaftlich geprägte Histori-
ker kaum mit den süditalienischen Muslimen jener Periode;6 und aufgrund
fortbestehender nationaler Konventionen blieb das Interesse der in der Südita-
lienforschung einflussreichen englischen und französischen Wissenschaftler
weitgehend auf die Zeit der Normannen beschränkt, die ja auch in den Natio-
nalhistorien Englands und Frankreichs eine Rolle spielten.7 Die Stauferzeit fiel
durch dieses Raster, und auch deutsche Historiker bemühten sich bis vor kurzem
kaum um Kompensation des Ungleichgewichts.8 Die Anjoukönige schließlich
erschienen den Italienern und Deutschen lange als ungeliebte Eroberer und
Fremdherrscher, während sie von Franzosen überwiegend als königliche Ne-
benlinie gesehen wurden; so weckte auch die angiovinische Ara weniger For-
schungsbegeisterung als die Normannenzeit.
All dies hatte das genannte Ungleichgewicht zur Folge: Gegenüber den
Muslimen insbesondere der Iberischen Halbinsel, aber auch der Levante und des
normannischen Sizilien wurde die muslimische Präsenz im staufisch-angiovi-
nischen Süditalien vernachlässigt. Zu ihr existieren lediglich zwei vergleichs-
weise umfassende Studien von hohem Niveau, wobei die erste schon über
100 Jahre alt ist: 1911 bis 1914 - also noch in monarchischer, kolonialer Zeit -
veröffentlichte der Süditaliener Pietro Egidi seine Untersuchung „La colonia
saracena di Lucera e la sua distruzione"9. Nach einem Überblick zur Geschichte
der Muslime ab der späten Normannenära rückt er das dramatische Ende der
süditalienischen muslimischen Präsenz in den Fokus. Dabei überzeugt Egidi,
zugleich Herausgeber des entscheidenden Quellenkorpus für die Endphase des
muslimischen Lucera,10 zwar mit profunder, in späterer Zeit oft nicht mehr
eingeholter lateinischer Quellenkenntnis; doch können seine Urteile ihre Zeit-
gebundenheit nicht verhehlen, sobald sie etwa orientalistische Deutungssche-
mata aufgreifen oder das Anjoukönigtum als Präfiguration der Fremdherr-
schaft' des italienischen Zentralstaats über Süditalien abqualifizieren. So er-
scheint eine Aktualisierung der Ergebnisse Egidis nötig, zumal in den letzten 100
Jahren natürlich neue historische und archäologische Ansätze, Quellen und Er-
kenntnisse hinzugekommen sind.
6 VgL nur die anders gelagerten Schwerpunkte von Amari, De Simone, Johns, Mandalä, Metcalfe
und Nef; intensiver interessiert war allenfalls Gabrieli; zu Salierno und Staccioli / Cassar unten bei
Anm. 12 f.
7 Eine Ausnahme bildete Abulafia; vgL neben oben Anm. 5: Abulafia, The End of Muslim Sicily;
Abulafia, Ethnie Variety and Its Implications; Abulafia, The first Servi Camere Regie; Abulafia, The
Last Muslims in Italy.
8 VgL explizit nur die Aufsätze: Houben, Möglichkeiten und Grenzen religiöser Toleranz; Houben,
Neue Quellen zur Geschichte; Göbbels, Der Krieg Karls I. von Anjou; erst neuerdings Clemens /
Matheus, Christen und Muslime, bzw. Matheus / Clemens, Musulmani e provenzali in Capitanata;
Scheller, Assimilation und Untergang; Clemens u. a., Bischofssitz und muslimische Adelsresi-
denz.
9 Egidi, La colonia saracena di Lucera.
10 VgL CDSL.