2. Eine Krise muslimischen Lebens am Vorabend der Stauferzeit?
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zelten Krise steckte. Für die Beurteilung der stauferzeitlichen Entwicklungen ist
diese Frage natürlich zentral, weswegen eigene Überlegungen angebracht sind.
So beginnt nun der eigenständige Teil der Studie mit einem Vorschlag zur Er-
hellung von Ibn Gubayrs Rihla, der mit drei weiteren Schlaglichtern der Über-
lieferung abzugleichen ist, um eine solide Bewertung der frühstaufischen Aus-
gangslage zu erreichen.
Ibn Gubayrs sizilischen Bericht versuchte die Forschung bislang auf zwei
Wegen aufzulösen: Einflussreiche ältere Autoren betonten die Schilderung
christlicher „Toleranz" im Normannenreich und bewerteten die Lage der sizili-
schen Muslime dementsprechend günstig.167 Da der glaubensstolze Pilger trotz
seiner Unversöhnlichkeit Positives bezeuge, musste dies ihrer Ansicht nach
umso zutreffender sein.168 Die Forschung der letzten Jahrzehnte war hier skep-
tischer und wertete Ibn Gubayrs Krisenindikatoren als die eigentlich authenti-
schen Beobachtungen; da sich diese gegen Ende seines sizilischen Berichts
mehren, nahm man an, Ibn Gubayr sei zunächst der pluralen Fassade des Nor-
mannenkönigtums aufgesessen, um dank zunehmender Vertrautheit mit den
lokalen Umständen seine Ersteindrücke später zu revidieren.169 Demnach habe
sich die muslimische Gemeinschaft am Vorabend der Stauferzeit bereits in einer
anhaltenden Krise befunden.
Doch erscheinen bei genauer Lektüre beide Auffassungen problematisch:
Die erste vernachlässigt wichtige Aussagen des Reiseberichts, die zweite setzt
eine Entwicklung der Eindrücke Ibn Gubayrs im Sinne einer zunehmenden
Desillusionierung voraus, die tatsächlich nur ansatzweise festzustellen ist:
Schließlich verzeichnet der Pilger schon kurz nach seiner Ankunft in Messina
Repressalien seitens der Christen, noch gegen Ende seines Aufenthalts aber
überraschende Belege christlichen Respekts gegenüber den Muslimen.170 So
bleiben auch Zweifel an dem Modell, dass ein Erkenntnisprozess Ibn Gubayrs
Darstellung leitete. Dementsprechend soll hier eine dritte Lösung vorgeschlagen
werden, die entgegen den bisherigen Ansätzen neben der Darstellungsper-
167 Vgl. Giunta / Rizzitano, Terra senza crociati, S. 58-62, mit dem Zitat auf S. 60: „la tolleranza
dimostrata dai Cristiani per la fede dei Saraceni"; Rizzitano, La cultura araba nella Sicilia, insbes.
S. 294-297; vgl. auch Schack, Die Araber im Reich, S. 43, Anm. 142; gar eine „Symbiose" kon-
statierte unlängst wieder, Borgolte, Augenlust im Land der Ungläubigen, S. 358, allerdings ohne
Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur.
168 Vgl. insbes. Giunta / Rizzitano, Terra senza crociati, S. 9, deren Interpretation ersichtlich große
Begeisterung für eine ethnisch-religiöse Pluralität des Normannenreichs im Vergleich zum
nördlicheren Abendland Pate stand.
169 Vgl. Houben, Möglichkeiten und Grenzen religiöser Toleranz, S. 184-186; Johns, Arabic Admi-
nistration in Norman Sicily, S. 241, 249; Metcalfe, The Muslims of Medieval Italy, S. 215; Feniello,
Sotto il segno del leone, S. 222-232; eingeschränkt schon Amari, Storia dei musulmani di Sicilia,
Bd. 3.2, S. 541 f.; eine „confusion" Ibn Gubayrs konstatierte gar Abulafia, The Kingdom of Sicily:
From Arab-Norman, S. 32.
170 So schildert er schon aus Messina die Klage eines Hofeunuchen, der wahre Glaube müsse unter
dem ungläubigen König verborgen werden, aus dem westsizilischen Trapani hingegen die
Großmütigkeit der Christen gegenüber einem religiösen Ritual der Muslime; vgl. Ibn Gubayr,
Rihla, ed. Wright / bearb. de Goeje, S. 326 und 336, übers, in The Travels of Ibn Jubayr, transl.
Broadhurst, S. 342 und 353; dazu unten bei Anm. 171 und 192.
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zelten Krise steckte. Für die Beurteilung der stauferzeitlichen Entwicklungen ist
diese Frage natürlich zentral, weswegen eigene Überlegungen angebracht sind.
So beginnt nun der eigenständige Teil der Studie mit einem Vorschlag zur Er-
hellung von Ibn Gubayrs Rihla, der mit drei weiteren Schlaglichtern der Über-
lieferung abzugleichen ist, um eine solide Bewertung der frühstaufischen Aus-
gangslage zu erreichen.
Ibn Gubayrs sizilischen Bericht versuchte die Forschung bislang auf zwei
Wegen aufzulösen: Einflussreiche ältere Autoren betonten die Schilderung
christlicher „Toleranz" im Normannenreich und bewerteten die Lage der sizili-
schen Muslime dementsprechend günstig.167 Da der glaubensstolze Pilger trotz
seiner Unversöhnlichkeit Positives bezeuge, musste dies ihrer Ansicht nach
umso zutreffender sein.168 Die Forschung der letzten Jahrzehnte war hier skep-
tischer und wertete Ibn Gubayrs Krisenindikatoren als die eigentlich authenti-
schen Beobachtungen; da sich diese gegen Ende seines sizilischen Berichts
mehren, nahm man an, Ibn Gubayr sei zunächst der pluralen Fassade des Nor-
mannenkönigtums aufgesessen, um dank zunehmender Vertrautheit mit den
lokalen Umständen seine Ersteindrücke später zu revidieren.169 Demnach habe
sich die muslimische Gemeinschaft am Vorabend der Stauferzeit bereits in einer
anhaltenden Krise befunden.
Doch erscheinen bei genauer Lektüre beide Auffassungen problematisch:
Die erste vernachlässigt wichtige Aussagen des Reiseberichts, die zweite setzt
eine Entwicklung der Eindrücke Ibn Gubayrs im Sinne einer zunehmenden
Desillusionierung voraus, die tatsächlich nur ansatzweise festzustellen ist:
Schließlich verzeichnet der Pilger schon kurz nach seiner Ankunft in Messina
Repressalien seitens der Christen, noch gegen Ende seines Aufenthalts aber
überraschende Belege christlichen Respekts gegenüber den Muslimen.170 So
bleiben auch Zweifel an dem Modell, dass ein Erkenntnisprozess Ibn Gubayrs
Darstellung leitete. Dementsprechend soll hier eine dritte Lösung vorgeschlagen
werden, die entgegen den bisherigen Ansätzen neben der Darstellungsper-
167 Vgl. Giunta / Rizzitano, Terra senza crociati, S. 58-62, mit dem Zitat auf S. 60: „la tolleranza
dimostrata dai Cristiani per la fede dei Saraceni"; Rizzitano, La cultura araba nella Sicilia, insbes.
S. 294-297; vgl. auch Schack, Die Araber im Reich, S. 43, Anm. 142; gar eine „Symbiose" kon-
statierte unlängst wieder, Borgolte, Augenlust im Land der Ungläubigen, S. 358, allerdings ohne
Auseinandersetzung mit der einschlägigen Literatur.
168 Vgl. insbes. Giunta / Rizzitano, Terra senza crociati, S. 9, deren Interpretation ersichtlich große
Begeisterung für eine ethnisch-religiöse Pluralität des Normannenreichs im Vergleich zum
nördlicheren Abendland Pate stand.
169 Vgl. Houben, Möglichkeiten und Grenzen religiöser Toleranz, S. 184-186; Johns, Arabic Admi-
nistration in Norman Sicily, S. 241, 249; Metcalfe, The Muslims of Medieval Italy, S. 215; Feniello,
Sotto il segno del leone, S. 222-232; eingeschränkt schon Amari, Storia dei musulmani di Sicilia,
Bd. 3.2, S. 541 f.; eine „confusion" Ibn Gubayrs konstatierte gar Abulafia, The Kingdom of Sicily:
From Arab-Norman, S. 32.
170 So schildert er schon aus Messina die Klage eines Hofeunuchen, der wahre Glaube müsse unter
dem ungläubigen König verborgen werden, aus dem westsizilischen Trapani hingegen die
Großmütigkeit der Christen gegenüber einem religiösen Ritual der Muslime; vgl. Ibn Gubayr,
Rihla, ed. Wright / bearb. de Goeje, S. 326 und 336, übers, in The Travels of Ibn Jubayr, transl.
Broadhurst, S. 342 und 353; dazu unten bei Anm. 171 und 192.