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Engl, Richard; Universität Trier [Mitarb.]; Jan Thorbecke Verlag [Mitarb.]; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die verdrängte Kultur: Muslime im Süditalien der Staufer und Anjou (12.-13. Jahrhundert) — Mittelalter-Forschungen, Band 59: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.61500#0283

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282

V. Angiovinische Übernahmen (1266-1300)

angenommen hatten;1423 Muslime aus Malta sind bezeugt1424 sowie Juden, die vor
der Inquisition nach Lucera flohen;1425 auch muslimische Sklaven aus dem wei-
teren Mittelmeerraum suchten bei ihren apulischen Glaubensgenossen Zuflucht
vor ihren Herren.1426 In der Festung vis-ä-vis der muslimischen Stadt hatte Karl
von Anjou die genannten Siedler aus dem Gebiet der französischen Krone an-
geworben.1427 Und sogar Immigration aus dem mongolischen Osten dürfte
stattgefunden haben, was ein in Lucera bezeugtes Haus „des Tartaren"1428 ver-
muten lässt: Als Tataren wurden bekanntlich mongolische Verbände bezeichnet,
die Anfang des 13. Jahrhunderts durch Eroberungen von Ostasien aus ein
Weltreich errichtet und dabei um 1240 die Grenzen Mitteleuropas und der
Mittelmeerwelt erreicht hatten; in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts waren
große Teile islamisiert und der muslimischen Welt integriert worden.1429 Ob der
mutmaßliche ,tartarische' Hausbesitzer in Lucera im Rahmen jener Handelsbe-
ziehungen nach Italien gekommen war, die italienische Seestädte mittlerweile
mit dem Steppenvolk am Schwarzen Meer etabliert hatten?1430 Immerhin wur-
den in Luceras angiovinischem Kastell Fragmente chinesischen Porzellans ge-
funden, eine im Europa des 13. Jahrhunderts vollkommen exotische Ware, die
zumindest indirekte Kontakte nach Ostasien nahelegt.1431 Im Gegensatz zu
sonstigen für die Apenninenhalbinsel bekannten Mongolen dürfte der mut-
maßliche Tartare in Lucera jedenfalls kein Sklave gewesen sein.
Gegenüber dem Gros der älteren Darstellungen bleibt somit insgesamt die
Vielfalt der Einflüsse und Bevölkerungsgruppen festzuhalten, die Lucera präg-
ten. Die Einwohner scheinen sich angesichts dessen auf tendenzielle Duldsam-
keit und Offenheit im religiös-kulturellen Bereich verlegt zu haben, wie eine
Reihe von Beobachtungen nahelegt: Wechselseitige Konversionen zwischen
Christentum und Islam wurden von der Bevölkerung hingenommenen, die
Muslime pflegten einen undogmatischen Umgang mit religiösen Verboten wie
dem Weinhandel und -konsum und adaptierten Elemente christlicher Urbanität.
Natürlich heißt dies nicht, Lucera sei eine idyllische Insel der Toleranz ge-
wesen: Immerhin drückte das fiskalische Regiment der angiovinischen Ver-
waltung gegen Ende des 13. Jahrhunderts, soziale Verwerfungen zwischen der
muslimischen Stadtelite und der einfachen Bevölkerung brachen auf1432 und

1423 Vgl. CDSL 99, S. 32 f.; vgl. oben bei Anm. 722.
1424 Vgl. CDSL 30, S. 9f.; CDSL 178, S. 65; CDSL 322, S. 130; CDSL 398, S. 188; CDSL 454, S. 213 f.;
CDSL 469, S. 222-224.
1425 Vgl. CDSL 85, S. 27f.; zu den Hintergründen Scheller, Die Stadt der Neuchristen, S. 47.
1426 Vgl. RCA, Bd. 11, 143, S. 55.
1427 Dazu oben bei Anm. 558 und 1267 f.
1428 CDSL 640, S. 311-313: ... item domus una que dicitur de Tartaro ...
1429 Zu den Mogolen und ihrer Expansion einführend Göckenjan, Mongolen; Göckenjan, Tataren;
Spuler, Goldene Horde; Jackson, The Mongols and the West; zur initialen Bedeutung für das
Kaisertum beispielsweise Stürner, Friedrich II., Bd. 2, S. 502-506.
1430 Dazu Jackson, The Mongols and the West, S. 292, 307f.
1431 Vgl. für die Funde Whitehouse, Chinese Porcelain from Lucera Castle; im vergleichenden Kontext
Whitehouse, Chinese Porcelain in Medieval Europe.
1432 Dazu unten im folgenden Kapitel V.3.
 
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