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Engl, Richard; Universität Trier [Mitarb.]; Jan Thorbecke Verlag [Mitarb.]; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Die verdrängte Kultur: Muslime im Süditalien der Staufer und Anjou (12.-13. Jahrhundert) — Mittelalter-Forschungen, Band 59: Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag, 2020

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https://doi.org/10.11588/diglit.61500#0285

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V. Angiovinische Übernahmen (1266-1300)

limischen Stadtelite konnten sich durch Konversion entziehen. Das endgültige
Ende muslimischen Lebens in Italien schien gekommen.
Als Zäsur der italienischen Geschichte wie der Geschichte christlich-musli-
mischer Beziehungen bewegt dieser Wendepunkt seit Langem die Gemüter der
Historiker. Die Ursachen des dramatischen Geschehens jedoch sind weiterhin
nicht abschließend geklärt. Seit über hundert Jahren kann sich die Forschung
bezüglich zweier Erklärungsmodelle nicht einig werden: Einerseits wurde un-
terstellt, der chronisch überschuldete König Karl II. habe die Muslime Luceras
sozusagen zu Geld machen wollen. Wegweisend für diese Auffassung war eine
Arbeit Pietro Egidis, des bedeutenden italienischen Erforschers des muslimi-
schen Lucera Anfang des 20. Jahrhunderts.1437 Andererseits lag die Annahme
nahe, der König habe aus religiösem Eifer gehandelt, wofür zuletzt ab den 1990er
Jahren David Abulafia, versierter Kenner des mittelalterlichen Italien aus Cam-
bridge, plädierte.1438
Egidis These der finanziellen Motivation hatte folgenden Hintergrund: Die
süditalienischen Anjou waren durch den Auf stand der , sizilianischen Vesper'
1282 in einen Unsummen verschlingenden Krieg gegen die Aragonesen gestürzt
worden, die die Insel Sizilien besetzt hatten.1439 In Folge dieses nicht enden
wollenden Konfliktes häuften die Angiovinen immer erdrückendere Schulden
vor allem beim Papst und bei florentinischen Bankiers an. In dieser Notlage habe
König Karl II. im Jahr 1300 seine muslimischen Untertanen um eines punktuellen
Gewinns willen in die Sklaverei verkauft und ihren Besitz zu Geld gemacht.1440
David Abulafia zufolge hätte es sich dabei allerdings um ein recht kurz-
sichtiges Vorgehen gehandelt: Nicht nur entfielen daraufhin die jährlichen
Steuer- und Abgabenzahlungen der Muslime - die weitaus höchsten der Region
-, vielmehr erforderte die Neubelebung Luceras als christliche Stadt sogar er-

1437 Vgl. Egidi, La colonia saracena di Lucera; in seiner Nachfolge vgL Bevere, Ancora sulla causa della
distruzione, S. 222-228; Saletta, La distruzione della colonia saracena, S. 76-100; Gabrieli, La
colonia Saracena di Lucera, S. 171: „gli Angiö, sotto manto di zelo religioso, in realtä soddisfecero
allora la propria e l'altrui aviditä sui beni e le fortune di questi musulmani di Lucera, ehe tale fu il
vero movente della ,crociata' di Pipino di Barletta, ehe portö alla estirpazione cruenta del nucleo
musulmano lucerino"; Housley, The Italian Crusades, S. 243: „The [financial] crisis continued into
1300, its climax being the destruction of Lucera, which was almost certainly a last desperate
measure to gain a financial respite"; Taylor, Muslim-Christian Relations, S. 151; unlängst in leicht
modifizierter Argumentation Scheller, Assimilation und Untergang.
1438 Vgl. Abulafia, Monarchs and Minorities, S. 239-246; Abulafia, La caduta di Lucera Saracenorum,
S. 171-186, S. 186: „la pietä del re, il suo odio contro ebrei e musulmani, Tinsistenza in un'epoca di
fallite crociate su una vittoria simbolica contro l'Islam, condannö i musulmani di Lucera alla loro
soppressione"; ähnlich schon Rivoire, Lucera sotto la dominazione angioina, S. 179-188,201-215,
S. 181; sowie, explizit Egidi entgegnend, Gifuni, Origini del ferragosto lucerino, S. 6f.
1439 Einführend zum Vesperkrieg vgl. Abulafia, Sicilian Vespers; Abulafia, The Kingdom of Sicily
under the Hohenstaufen, S. 512-520; Galasso, Il Regno di Napoli, Bd. 1, S. 81-109.
1440 Vgl. pointiert Egidi, La colonia saracena di Lucera, 39,1914, S. 697: „il movente primo ed esseziale
della distruzione della universitä dei Saraceni fu l'avida brama di confiscare i loro beni e di far
denaro delle loro persone"; zur Finanznot des Jahres 1300 ebd., S. 697-727, sowie Housley, The
Italian Crusades, S. 243 f.
 
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