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DAS HAUS WALTHER RATHENAU IN BERLIN-GRUNEWALD
Von Dr. MAX OSBORN, Berlin
Im Stilwirrwarr und in der Ratlosigkeit der Ber-
liner Grunewaldarchitektur, die mit allen Län-
dern und Jahrhunderten unstät liebäugelt, steht
dies Haus wie ein Trost, ein Wahrzeichen, eine
Warnung und eine Hoffnung. Wir haben in dieser
Villenkolonie eine Reinkultur von Schulbeispielen
aller Bauarten, wir haben englische, französische,
italienische, bayerische, niedersächsische, thürin-
gische, holländische, skandinavische und Misch-
maschhäuser, aus allen möglichen Elementen zu-
sammengestampft: dies, o Wunder, ist — ein ber-
linisches Landhaus. Es wäre wohl das Nächst-
liegende gewesen, es schon vor dreissig Jahren auf
diesem Wege zu versuchen. Aber das Gegebene
und Natürliche braucht in Berlin immer längere
Zeit, sich durchzusetzen. So erhebt sich denn die
Villa des Herrn Dr. Walther Rathenau nicht am An-
fang, sondern, höchst symbolisch, am Ende der
Kolonie, als das letzte Gebäude der nun bis zum
Hundekehlensee vorgeschobenen Reihe. V
V Man redet heute so gern von der „Kulturlosig-
keit“ Berlins, und einer unserer besten Köpfe hat
sich zu der These von der preussisch-deutschen
„Kolonialstadt“ verstiegen, die einst ins slavische
Gebiet gesetzt worden sei und die Kennzeichen
dieses künstlichen, nicht organischen, sondern aus
zweckbewusster Absicht konstruierten Prozesses
bis zur Stunde noch nicht abgestreift habe. Aber
die geehrten Herren vergessen ganz, dass Berlin
früher, vor dem grossen „Aufschwung“ nach 1860,
schon eine reife und abgeschlossene, völlig indivi-
duelle und gar nicht gering einzuschätzende Kultur
des inneren wie des äusseren Lebens besass, die
sich in mehreren Jahrhunderten ganz folgerichtig
und organisch entwickelt hatte und dem äusseren
Bilde der Stadt wie dem Gesamtbetrieb der künst-
lerischen und gewerblichen Produktion einen be-
stimmten Stempel aufdrückte. Erst als in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Mechani-
sierung aller Lebensfunktionen, die gerade Walther
Rathenau in seinem letzten Buche („Kritik der Zeit“)
sehr geistreich charakterisiert hat, den älteren Formen
desgeistigen so gutwie des wirtschaftlichen undgesell-
schaftlichen Verkehrs zu Leibe ging, verfiel jene
alte Sicherheit des spezifisch berlinischen Wesens.
Verfiel um so schneller und gründlicher, als Berlin
eben jetzt erst zu einer nationalen Hauptstadt und
Weltstadt heranwuchs. Dies war sein Schicksal.
Aber die Werte, die einst geschaffen wurden, sind
darum nicht untergegangen. Man muss nur ver-
stehen, den verschütteten Schatz wieder zu heben.
V Ihren Höhepunkt hatte jene künstlerische Kul-
tur Berlins um 1800 erreicht, als der Preussen-
staat, vor dem napoleonischen Verhängnis, die
Früchte der ungeheuren Lebensarbeit Friedrichs
des Grossen ungestört erntete und genoss. Archi-
tektur und Kunsthandwerk der Stadt wurden da-
mals von der allgemeinen hellenistischen Bewegung
erfasst, die über ganz Europa flutete; aber wie
schon vorher zur gotischen, zur Renaissance-, zur
Barock-, Zopf- und Rokokozeit, erwies sich auch
diesmal der scheinbar dürre Sandboden der Mark
als kräftig genug, um die aus der Fremde impor-
tierten und ihm eingepflanzten Keime mit seinen
eigenen Säften zu durchtränken. Der Klassizismus
hat nirgends Blüten von der Art getrieben, und
man darf getrost sagen: er hat nirgends schönere
Blüten getrieben als in den Bauten, Innenarchitek-
turen und kunstgewerblichen Zeichnungen derGilly,
Langhans, Titel und ihrer Nebenmänner. Unter
ihren Händen nahm das internationale Griechen-
tum der Epoche ein schwer beschreibliches, doch
deutlich erkennbares Etwas von der Bescheiden-
heit, Sparsamkeit, Gehaltenheit, Straffheit und
Zähigkeit des preussisch - märkisch - berlinischen
Eigenwesens an. Schon bei Schinkel verliert sich
ein erkleckliches Quantum von dem feinen Zauber
der Werke dieser Männer, die noch mit der „un-
wissenschaftlichen“, mehr aus dem Empfinden als
aus Kenntnissen schöpfenden historischen Bildung
des achtzehnten Jahrhunderts vorgegangen waren,
die „reine Lehre“ des Altertums, vielleicht unfrei-
willig, vielleicht auch freiwillig, zu persönlichem
Ausdruck umgeschmolzen hatten. Schinkels An-
tike wurde schon wissenschaftlicher, gelehrter und
bewusster als die seiner Vorgänger. Immerhin war
sein Genie stark genug, um seinen Schöpfungen
neben ihrer edlen Haltung und inneren Vornehm-
heit doch auch noch etwas von der Atmosphäre
jener preussisch - berlinischen Art zu verleihen.
Auch bei seinen unmittelbaren Schülern, vor allem
bei Stüler und Hitzig, blieb das zumeist unver-
wischt. Erst die zweite Generation nach Schinkel,
mit Strack beginnend, räumte mit der guten Tra-
dition auf und glitt in die charakterlose „Renais-
sance“-Manier hinein, die dann zu den Orgien des
Schwulst- und Protzenstils führte und die Einheit
des Stadtbildes zerstörte. V
DAS HAUS WALTHER RATHENAU IN BERLIN-GRUNEWALD
Von Dr. MAX OSBORN, Berlin
Im Stilwirrwarr und in der Ratlosigkeit der Ber-
liner Grunewaldarchitektur, die mit allen Län-
dern und Jahrhunderten unstät liebäugelt, steht
dies Haus wie ein Trost, ein Wahrzeichen, eine
Warnung und eine Hoffnung. Wir haben in dieser
Villenkolonie eine Reinkultur von Schulbeispielen
aller Bauarten, wir haben englische, französische,
italienische, bayerische, niedersächsische, thürin-
gische, holländische, skandinavische und Misch-
maschhäuser, aus allen möglichen Elementen zu-
sammengestampft: dies, o Wunder, ist — ein ber-
linisches Landhaus. Es wäre wohl das Nächst-
liegende gewesen, es schon vor dreissig Jahren auf
diesem Wege zu versuchen. Aber das Gegebene
und Natürliche braucht in Berlin immer längere
Zeit, sich durchzusetzen. So erhebt sich denn die
Villa des Herrn Dr. Walther Rathenau nicht am An-
fang, sondern, höchst symbolisch, am Ende der
Kolonie, als das letzte Gebäude der nun bis zum
Hundekehlensee vorgeschobenen Reihe. V
V Man redet heute so gern von der „Kulturlosig-
keit“ Berlins, und einer unserer besten Köpfe hat
sich zu der These von der preussisch-deutschen
„Kolonialstadt“ verstiegen, die einst ins slavische
Gebiet gesetzt worden sei und die Kennzeichen
dieses künstlichen, nicht organischen, sondern aus
zweckbewusster Absicht konstruierten Prozesses
bis zur Stunde noch nicht abgestreift habe. Aber
die geehrten Herren vergessen ganz, dass Berlin
früher, vor dem grossen „Aufschwung“ nach 1860,
schon eine reife und abgeschlossene, völlig indivi-
duelle und gar nicht gering einzuschätzende Kultur
des inneren wie des äusseren Lebens besass, die
sich in mehreren Jahrhunderten ganz folgerichtig
und organisch entwickelt hatte und dem äusseren
Bilde der Stadt wie dem Gesamtbetrieb der künst-
lerischen und gewerblichen Produktion einen be-
stimmten Stempel aufdrückte. Erst als in der zweiten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Mechani-
sierung aller Lebensfunktionen, die gerade Walther
Rathenau in seinem letzten Buche („Kritik der Zeit“)
sehr geistreich charakterisiert hat, den älteren Formen
desgeistigen so gutwie des wirtschaftlichen undgesell-
schaftlichen Verkehrs zu Leibe ging, verfiel jene
alte Sicherheit des spezifisch berlinischen Wesens.
Verfiel um so schneller und gründlicher, als Berlin
eben jetzt erst zu einer nationalen Hauptstadt und
Weltstadt heranwuchs. Dies war sein Schicksal.
Aber die Werte, die einst geschaffen wurden, sind
darum nicht untergegangen. Man muss nur ver-
stehen, den verschütteten Schatz wieder zu heben.
V Ihren Höhepunkt hatte jene künstlerische Kul-
tur Berlins um 1800 erreicht, als der Preussen-
staat, vor dem napoleonischen Verhängnis, die
Früchte der ungeheuren Lebensarbeit Friedrichs
des Grossen ungestört erntete und genoss. Archi-
tektur und Kunsthandwerk der Stadt wurden da-
mals von der allgemeinen hellenistischen Bewegung
erfasst, die über ganz Europa flutete; aber wie
schon vorher zur gotischen, zur Renaissance-, zur
Barock-, Zopf- und Rokokozeit, erwies sich auch
diesmal der scheinbar dürre Sandboden der Mark
als kräftig genug, um die aus der Fremde impor-
tierten und ihm eingepflanzten Keime mit seinen
eigenen Säften zu durchtränken. Der Klassizismus
hat nirgends Blüten von der Art getrieben, und
man darf getrost sagen: er hat nirgends schönere
Blüten getrieben als in den Bauten, Innenarchitek-
turen und kunstgewerblichen Zeichnungen derGilly,
Langhans, Titel und ihrer Nebenmänner. Unter
ihren Händen nahm das internationale Griechen-
tum der Epoche ein schwer beschreibliches, doch
deutlich erkennbares Etwas von der Bescheiden-
heit, Sparsamkeit, Gehaltenheit, Straffheit und
Zähigkeit des preussisch - märkisch - berlinischen
Eigenwesens an. Schon bei Schinkel verliert sich
ein erkleckliches Quantum von dem feinen Zauber
der Werke dieser Männer, die noch mit der „un-
wissenschaftlichen“, mehr aus dem Empfinden als
aus Kenntnissen schöpfenden historischen Bildung
des achtzehnten Jahrhunderts vorgegangen waren,
die „reine Lehre“ des Altertums, vielleicht unfrei-
willig, vielleicht auch freiwillig, zu persönlichem
Ausdruck umgeschmolzen hatten. Schinkels An-
tike wurde schon wissenschaftlicher, gelehrter und
bewusster als die seiner Vorgänger. Immerhin war
sein Genie stark genug, um seinen Schöpfungen
neben ihrer edlen Haltung und inneren Vornehm-
heit doch auch noch etwas von der Atmosphäre
jener preussisch - berlinischen Art zu verleihen.
Auch bei seinen unmittelbaren Schülern, vor allem
bei Stüler und Hitzig, blieb das zumeist unver-
wischt. Erst die zweite Generation nach Schinkel,
mit Strack beginnend, räumte mit der guten Tra-
dition auf und glitt in die charakterlose „Renais-
sance“-Manier hinein, die dann zu den Orgien des
Schwulst- und Protzenstils führte und die Einheit
des Stadtbildes zerstörte. V