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Das neue Frankfurt: internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung — 1.1926/​1927

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Scherchen, Hermann: Die gegenwärtige Situation der Musik
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https://doi.org/10.11588/diglit.17290#0187

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DIE GEGENWÄRTIGE SITUATION DER MUSIK

Von Kapellmeifter Hermann Scherchen

Das Wefen der Mufik befteht darin, dafj fie wie keine andere Kunft die Zeit
widerfpiegelt. Während die Wortkunff begrifflich voraus fchafft und Gedan-
ken, Empfindungen präzifiert, die das Zukünftige darftellen, fcheint die Mufik
dazu beftimmt, der eindeutige reichfte Ausdruck des Beftehenden zu fein.
Das macht ihre Stärke aus und ihren Reichtum: Wo eine Zeit den natürlichen
Höhepunkt fand, entftand immer Mufik, genährt vom Blühen folcher Zeit und
von ihren beften Kräften; zugleich bedeutet diefe Abhängigkeit eineSchwäche,
das naturgemäße Verfagen der Mufik: Schwache Zeiten, Zerfplitterungen des
Gemeinfchaftskörpers lähmen auch die Mufik, find Zerfplitterungen ihrer
Bindekraft.

Unterfuchen wir die Vorausferjungen, welche die Mufik als Kunft gedeihen
laffen, fo finden wir

1. die auf das Gemeinfchaftsgefühl gegründete Mufik (im Kultus der
Religion, einer Weltanfchauung), fich darfteilend vorwiegend als kirchliche
Kunftform in der Liturgie ebenfo wie in dem proteftantifchen Gemeindegefang
oder in den reifen Kunftgebilden des Oratoriums, der Paffion und Meffe;

2. die auf die elementaren Grundempfindungen des Menfchen
gegründete Mufik (in reiner Form als Volkslied, Volkstanz) den Lebensquell
bildend aller Kunffformen der Mufik, bis zur verfeinertften Kammermufik und
zum Riefenausmafj Beethovenscher Sinfonik;

3. die auf die artiffifchen Fähigkeiten gegründete Mufik (Ueber-
fchätjung der Materie als Vorausferjung, das Experiment um des Experimentes
willen, die Sucht nach derSenfation immer neuer Reize); hierher gehört f a I fch
verftandene mechanifche Mufik ebenfo wie Viertelton- und Zwölfton-Mufik.
Die Entwicklung der Mufik vollzieht fich fo, dafj entfprechend der angege-
benen Reihenfolge nach einem mehrhundertjährigen Anftieg in der kultifch-
religiöfen Mufik der Gipfelpunkt (Bach und Händel) erreicht wird gleichzeitig
mit dem Entfalten aller auf der Volksmufik bafierten Kräfte; darnach beginnt
der Abftieg bis in den verfpäteten Individualismus und die hilflofe Artiftik
unferer Tage. Die Höhepunkte des kollektiven Empfindens find
die Höhepunkte der Mufik — feiner Zerfefjung folgt die Zerfplitterung
der Mufik in fich ablöfende, felbftändig werdende Einzeldisziplinen (Kammer-
mufik, Orchefterfpiel, a capella, begleiteter, chorifcher und foliftifcher Gelang
etc.) und die Verkleinerung und Auflöfung der Hörergemeinfchaft.
Welches ift nun die gegenwärtige Situation der Mufik? Der eben gekenn-
zeichnete Entwicklungsgang hat folgende Ausprägung in der Gliederung
des Mufiklebens gefunden: Nicht mehr eine organifch gewachfene Kunftge-
meinfchaft befteht (mit innigem Zufammenhang von Komponift, Kunftwerk,
Reproduzierendem und Hörendem), fondern eine höchff zufällige Oeffent-

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