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M. H artig
mählich auch die überkommenen Bildungsschätze
in ihren Dienst zogen. So entstanden jene Keim-
zellen einer ersten großen Kulturblüte in Deutsch-
land, die für immer an das Zeitalter Karls
d. Gr. geknüpft sein wird.
Freilich, erst mußte die junge Reichenau die
politischen Stürme ihrer Gründungsepoche über-
standen haben, erst mußte durch Karl d. Gr. und
seine Ratgeber das christliche Bildungsideal im
einzelnen umschrieben, mußten Lehrer vor gebil-
det, Bücher schätze zusammengetragen, Normen
des Lehrgangs gewonnen sein, bis wir auch auf
Reichenau von einer Klosterschule sprechen kön-
nen. An Ansätzen dazu fehlte es allerdings schon
vorher nicht. Schon vor den Tagen Pippins ging
von der Reichenau eine starke Kulturkraft aus;
gab sie doch bereits in so früher Zeit Männer
und Bücher an ihre Tochterklöster ab. Auch St.
Gallen, das sich damals mit anderen Gründungen
der Iroschotten dem Benediktinerorden zuwandte,
hatte bereits im 8. Jht. seinen iroschottischen Bü-
cherbestand zu mehren begonnen. Karl d. Gr.,
der mit seiner schwäbischen Gemahlin Flildegard
und ihrem reckenhaften Bruder Gerolt 780 auf
seiner Romfahrt die Reichenau besuchte, traf
dort zweifellos bereits eine Stätte klösterlicher
Unterweisung an. Der i. J. 763 geborene Heito
war bereits mit 5 Jahren auf die Au gekommen
und hatte dort sßine Ausbildung empfangen, die
ihn später zum erfolgreichen Lehrer und Abt be-
fähigte.
Der schaffende und führende Geist aber,
der mit dem ,Goldenen Zeitalter* der Reichenau
auch den Ruhm ihrer Klosterschule begründet
hat, war Abt "W a 1 d o, der vornehme Ostfranke
und Vertraute Karls d. Gr. Als Abt von Rei-
chenau und Bischof von Pavia, zeitweilig auch
von Basel, gewann Waldo einen Reichtum an
Erfahrung und damit jene Spannweite des Ge-
sichtskreises, die wir an den Männern Karls d.
Gr. bewundern. Er hat den Bildungsbestrebungen
des Herrschers, seinen Zielen und Vorschriften,
am Bodensee die Wege bereitet.
Im Lande der Angelsachsen und einzelnen Stät-
ten Italiens stand damals die geistige Kultur
höher als im Frankenreich. Aus beiden Ländern
berief Karl d. Gr. die besten Köpfe in seinen
Dienst. Auf jener Italienreise Karls d. Gr. fand
zu Parma i. J. 781 die denkwürdige Begegnung
des Herrschers mit dem angelsächsischen Ge-
lehrten Alkuin statt, deren Frucht der Eintritt
Alkuins in den Dienst des Frankenherrschers
war. Alkuin wurde der Wegbereiter und Voll-
zieher der Bildungsreformen in den fränkischen
Klöstern. Mit der Übertragung der berühmten
Abtei St. Martin in Tours auf Alkuin i. J. 796
hielt dort die überlegene angelsächsische Kultur
im Frankenreich ihren Einzug. Während Pirmin
und der Angelsachse Winfrid - Bonifatius sich
noch in achtungsvoller Entfernung gegenüberstan-
den, müssen sich Alkuin und Waldo von Rei-
chenau alsbald nahe gekommen sein.
Der Unterricht war Alkuins Lebensaufgabe.
Alkuin war ein frommer Gelehrter, seine viel-
gelesenen Briefe fordern zuerst und vor allem
sittliche Haltung und Charakterbildung. Seine,
in Dialogform gekleideten Unterrichtsschriften
wollen nicht nur Wissen vermitteln, sondern zu
Schlagfertigkeit im Denken erziehen. Alkuins
theologische Schriften galten der Liturgie und
der Bibelerklärung; sein tiefstes Werk ist seine
dogmatische Schrift über die Dreifaltigkeit. Das
Bildungsziel Alkuins war ein vornehmlich theo-
logisches. Höchsten Wert legte er auf treue und
richtige Texte. Aus seiner eigenen angelsächsi-
schen Lehrzeit übernahm er die sprachlich-gram-
matische Schulung als wichtigsten Unterrichts-
stoff, weil Vorbedingung zum Verständnis der /
hl. Schrift und der theologischen Schriftsteller.
Der Grammatik fügten sich im Lehrplan Alkuins
die Rhetorik und die Metrik an; aus der letzte-
ren entsproß die Beschäftigung mit den römi-
M. H artig
mählich auch die überkommenen Bildungsschätze
in ihren Dienst zogen. So entstanden jene Keim-
zellen einer ersten großen Kulturblüte in Deutsch-
land, die für immer an das Zeitalter Karls
d. Gr. geknüpft sein wird.
Freilich, erst mußte die junge Reichenau die
politischen Stürme ihrer Gründungsepoche über-
standen haben, erst mußte durch Karl d. Gr. und
seine Ratgeber das christliche Bildungsideal im
einzelnen umschrieben, mußten Lehrer vor gebil-
det, Bücher schätze zusammengetragen, Normen
des Lehrgangs gewonnen sein, bis wir auch auf
Reichenau von einer Klosterschule sprechen kön-
nen. An Ansätzen dazu fehlte es allerdings schon
vorher nicht. Schon vor den Tagen Pippins ging
von der Reichenau eine starke Kulturkraft aus;
gab sie doch bereits in so früher Zeit Männer
und Bücher an ihre Tochterklöster ab. Auch St.
Gallen, das sich damals mit anderen Gründungen
der Iroschotten dem Benediktinerorden zuwandte,
hatte bereits im 8. Jht. seinen iroschottischen Bü-
cherbestand zu mehren begonnen. Karl d. Gr.,
der mit seiner schwäbischen Gemahlin Flildegard
und ihrem reckenhaften Bruder Gerolt 780 auf
seiner Romfahrt die Reichenau besuchte, traf
dort zweifellos bereits eine Stätte klösterlicher
Unterweisung an. Der i. J. 763 geborene Heito
war bereits mit 5 Jahren auf die Au gekommen
und hatte dort sßine Ausbildung empfangen, die
ihn später zum erfolgreichen Lehrer und Abt be-
fähigte.
Der schaffende und führende Geist aber,
der mit dem ,Goldenen Zeitalter* der Reichenau
auch den Ruhm ihrer Klosterschule begründet
hat, war Abt "W a 1 d o, der vornehme Ostfranke
und Vertraute Karls d. Gr. Als Abt von Rei-
chenau und Bischof von Pavia, zeitweilig auch
von Basel, gewann Waldo einen Reichtum an
Erfahrung und damit jene Spannweite des Ge-
sichtskreises, die wir an den Männern Karls d.
Gr. bewundern. Er hat den Bildungsbestrebungen
des Herrschers, seinen Zielen und Vorschriften,
am Bodensee die Wege bereitet.
Im Lande der Angelsachsen und einzelnen Stät-
ten Italiens stand damals die geistige Kultur
höher als im Frankenreich. Aus beiden Ländern
berief Karl d. Gr. die besten Köpfe in seinen
Dienst. Auf jener Italienreise Karls d. Gr. fand
zu Parma i. J. 781 die denkwürdige Begegnung
des Herrschers mit dem angelsächsischen Ge-
lehrten Alkuin statt, deren Frucht der Eintritt
Alkuins in den Dienst des Frankenherrschers
war. Alkuin wurde der Wegbereiter und Voll-
zieher der Bildungsreformen in den fränkischen
Klöstern. Mit der Übertragung der berühmten
Abtei St. Martin in Tours auf Alkuin i. J. 796
hielt dort die überlegene angelsächsische Kultur
im Frankenreich ihren Einzug. Während Pirmin
und der Angelsachse Winfrid - Bonifatius sich
noch in achtungsvoller Entfernung gegenüberstan-
den, müssen sich Alkuin und Waldo von Rei-
chenau alsbald nahe gekommen sein.
Der Unterricht war Alkuins Lebensaufgabe.
Alkuin war ein frommer Gelehrter, seine viel-
gelesenen Briefe fordern zuerst und vor allem
sittliche Haltung und Charakterbildung. Seine,
in Dialogform gekleideten Unterrichtsschriften
wollen nicht nur Wissen vermitteln, sondern zu
Schlagfertigkeit im Denken erziehen. Alkuins
theologische Schriften galten der Liturgie und
der Bibelerklärung; sein tiefstes Werk ist seine
dogmatische Schrift über die Dreifaltigkeit. Das
Bildungsziel Alkuins war ein vornehmlich theo-
logisches. Höchsten Wert legte er auf treue und
richtige Texte. Aus seiner eigenen angelsächsi-
schen Lehrzeit übernahm er die sprachlich-gram-
matische Schulung als wichtigsten Unterrichts-
stoff, weil Vorbedingung zum Verständnis der /
hl. Schrift und der theologischen Schriftsteller.
Der Grammatik fügten sich im Lehrplan Alkuins
die Rhetorik und die Metrik an; aus der letzte-
ren entsproß die Beschäftigung mit den römi-