Sehen Sie sich vor, Herr Westheim, mit
Ihren Verdächtigungen. Denn ich wieder-
hole Ihnen, es gibt keine grosse oder
kleine gegen Waiden und den Sturm in
Kurs gebrachte Verleumdung, die ich nicht
mit Dokumenten widerlegen werde. Jahre-
lang hat sich Waiden von der Geschäfts-
tüchtigkeit einiger Künstler gebrauchen
lassen. Den Nutzniessern, die sich bedrückt
fühlen, dass sie ihr ganzes Ansehen dem
Sturm verdanken, bleibt nichts übrig, als
Gründe zu erfinden, die unser Guthaben
zu dem ihrigen machen sollen. Fällt ihnen
kein Pfennig ein, der ihnen dazu verhelfen
könnte, dann legen sie sich eine Über-
zeugung zurecht und lehnen die Gemein-
schaft mit William Wauer, Nell Waiden
oder Rudolf Bauer ab. Neben einem „Bild
der Tiete" wollen sie nicht hängen, aber
sie sind glücklich, in irgendeiner anderen
Ausstellung oder Kunsthandlung über die
Bilder des Tiefstands zu ragen. Und weder
diese Künstler noch Sie, Herr Westheim,
ahnen, wie gross die heimliche Ehrfurcht
vor dem Sturm ist, wenn sie solchen alber-
nen und verlogenen Ausreden das Ansehen
wahrer und triftiger Gründe geben soll.
Rudolf Blümner
Die vier Toten der Fiametta
Lieber Herwarth Waiden
Die Dresdner Musikkritiker haben über
Deine Musik „Die vier Toten der Fiametta"
geschrieben, wie ich es nicht erwartet habe.
Du weisst, dass ich oft genug Gelegenheit
hatte, bei den Dresdner Kritikern nicht nur
weniger Bosheit und Verstocktheit als bei
den Berliner Kritikern, sondern auch guten
Willen und sogar beachtenswerte Fähig-
keiten zur Erkenntnis von Kunst festzu-
stellen. Und Du weisst, dass ich diese An-
erkennung nicht nur auf das hohe Lob
gründete, das die Dresdner Kritik meinen
Vorträgen stets zukommen liess, sondern
darauf, dass dieses Lob oft mit künst-
lerischer Einsicht erteilt wurde. Darum
ist es für mich eine vollkommene Über-
raschung, dass einer dieser Kritiker in
seiner Besprechung im Berliner Tageblatt
schreibt:
„Die Pantomime ist keine Pantomime,
sondern nur banales Balett von ehemals."
Hier handelt es sich um einen überaus
seltenen Fall. Denn hier kann nicht mehr
davon die Rede sein, dass zwischen der
Auffassung des Künstlers und des Kritikers
eine Verschiedenheit der Meinungen be-
steht. Die Ansichten, was eine Pantomime
und was ein Balett sei, stehen nirgends auf
der Welt miteinander in Widerspruch. Es
ist keine Ansichtssache, ob man eine Pan-
tomime, in deren Verlauf eine der agieren-
den Personen einen kurzen Tanz vorführt,
im übrigen aber nicht getanzt wird, ein
Balett nennt. Wenn also dieser Kritiker
Deine Pantomime für ein Balett gehalten
hat oder als Balett bezeichnet, so gibt es
nur die folgenden Möglichkeiten für die Er-
klärung eines solchen Irrtums: Entweder
hat dieser Kritiker die Aufführung gar nicht
gesehen, oder er hat während der Auf-
führung geschlafen, oder er hat die Augen
während der Aufführung geschlossen, oder
er hat nie ein Balett gesehen, oder er hat
sich einer schriftstellerischen Darstellungs-
form bedient, die sonst sogar bei Kritikern
nicht üblich ist. Und wenn dieser Kritiker
von Deiner Pantomime sagt, man spiele
„mit einer lächerlichen Para-
lellität der Musik und noten-
treuen Gestik", dann, lieber Herwarth
Waiden, dann wollen wir uns freuen, dass
in dieser Kritik der dolus malus so ein-
wandfrei bewiesen ist, wie vielleicht
noch niemals, seit Kritiker gegen Kunst
schreiben. Es ist nicht denkbar, dass ein
Mensch so vollkommen vom Geist der
Kunst verlassen sei, dass ihm Gott kein
Gefühl für die Einheit der Kunst, genau
so gut wie für die Einheit des Weltalls
verliehen haben soll. Es ist vollkommen
ausgeschlossen, dass dieser Kritiker die
Notwendigkeit nicht empfunden habe, mit
der in der musikalischen Pantomime zwei
Künste zu einer untrennbaren Einheit ver-
schmelzen müssen. Es ist vollkommen
ausgeschlossen, dass dieser Kritiker nicht
empfunden hat: hier ist zum ersten Mal in
Europa das Problem der Pantomime er-
kannt, gelöst und in dieser Lösung völlig ge-
zeigt worden. In aHen Pantomimen, die mau
bisher in sämtlichen Ländern Europas, selbst
bei den Russen, sehen konnte, bestand eine
trennende Kluft zwischen der Bewegungs-
kunst der Pantomime und ihrer Musik. Zwei
Künste, deren Rhythmen von verschiedenen
Ihren Verdächtigungen. Denn ich wieder-
hole Ihnen, es gibt keine grosse oder
kleine gegen Waiden und den Sturm in
Kurs gebrachte Verleumdung, die ich nicht
mit Dokumenten widerlegen werde. Jahre-
lang hat sich Waiden von der Geschäfts-
tüchtigkeit einiger Künstler gebrauchen
lassen. Den Nutzniessern, die sich bedrückt
fühlen, dass sie ihr ganzes Ansehen dem
Sturm verdanken, bleibt nichts übrig, als
Gründe zu erfinden, die unser Guthaben
zu dem ihrigen machen sollen. Fällt ihnen
kein Pfennig ein, der ihnen dazu verhelfen
könnte, dann legen sie sich eine Über-
zeugung zurecht und lehnen die Gemein-
schaft mit William Wauer, Nell Waiden
oder Rudolf Bauer ab. Neben einem „Bild
der Tiete" wollen sie nicht hängen, aber
sie sind glücklich, in irgendeiner anderen
Ausstellung oder Kunsthandlung über die
Bilder des Tiefstands zu ragen. Und weder
diese Künstler noch Sie, Herr Westheim,
ahnen, wie gross die heimliche Ehrfurcht
vor dem Sturm ist, wenn sie solchen alber-
nen und verlogenen Ausreden das Ansehen
wahrer und triftiger Gründe geben soll.
Rudolf Blümner
Die vier Toten der Fiametta
Lieber Herwarth Waiden
Die Dresdner Musikkritiker haben über
Deine Musik „Die vier Toten der Fiametta"
geschrieben, wie ich es nicht erwartet habe.
Du weisst, dass ich oft genug Gelegenheit
hatte, bei den Dresdner Kritikern nicht nur
weniger Bosheit und Verstocktheit als bei
den Berliner Kritikern, sondern auch guten
Willen und sogar beachtenswerte Fähig-
keiten zur Erkenntnis von Kunst festzu-
stellen. Und Du weisst, dass ich diese An-
erkennung nicht nur auf das hohe Lob
gründete, das die Dresdner Kritik meinen
Vorträgen stets zukommen liess, sondern
darauf, dass dieses Lob oft mit künst-
lerischer Einsicht erteilt wurde. Darum
ist es für mich eine vollkommene Über-
raschung, dass einer dieser Kritiker in
seiner Besprechung im Berliner Tageblatt
schreibt:
„Die Pantomime ist keine Pantomime,
sondern nur banales Balett von ehemals."
Hier handelt es sich um einen überaus
seltenen Fall. Denn hier kann nicht mehr
davon die Rede sein, dass zwischen der
Auffassung des Künstlers und des Kritikers
eine Verschiedenheit der Meinungen be-
steht. Die Ansichten, was eine Pantomime
und was ein Balett sei, stehen nirgends auf
der Welt miteinander in Widerspruch. Es
ist keine Ansichtssache, ob man eine Pan-
tomime, in deren Verlauf eine der agieren-
den Personen einen kurzen Tanz vorführt,
im übrigen aber nicht getanzt wird, ein
Balett nennt. Wenn also dieser Kritiker
Deine Pantomime für ein Balett gehalten
hat oder als Balett bezeichnet, so gibt es
nur die folgenden Möglichkeiten für die Er-
klärung eines solchen Irrtums: Entweder
hat dieser Kritiker die Aufführung gar nicht
gesehen, oder er hat während der Auf-
führung geschlafen, oder er hat die Augen
während der Aufführung geschlossen, oder
er hat nie ein Balett gesehen, oder er hat
sich einer schriftstellerischen Darstellungs-
form bedient, die sonst sogar bei Kritikern
nicht üblich ist. Und wenn dieser Kritiker
von Deiner Pantomime sagt, man spiele
„mit einer lächerlichen Para-
lellität der Musik und noten-
treuen Gestik", dann, lieber Herwarth
Waiden, dann wollen wir uns freuen, dass
in dieser Kritik der dolus malus so ein-
wandfrei bewiesen ist, wie vielleicht
noch niemals, seit Kritiker gegen Kunst
schreiben. Es ist nicht denkbar, dass ein
Mensch so vollkommen vom Geist der
Kunst verlassen sei, dass ihm Gott kein
Gefühl für die Einheit der Kunst, genau
so gut wie für die Einheit des Weltalls
verliehen haben soll. Es ist vollkommen
ausgeschlossen, dass dieser Kritiker die
Notwendigkeit nicht empfunden habe, mit
der in der musikalischen Pantomime zwei
Künste zu einer untrennbaren Einheit ver-
schmelzen müssen. Es ist vollkommen
ausgeschlossen, dass dieser Kritiker nicht
empfunden hat: hier ist zum ersten Mal in
Europa das Problem der Pantomime er-
kannt, gelöst und in dieser Lösung völlig ge-
zeigt worden. In aHen Pantomimen, die mau
bisher in sämtlichen Ländern Europas, selbst
bei den Russen, sehen konnte, bestand eine
trennende Kluft zwischen der Bewegungs-
kunst der Pantomime und ihrer Musik. Zwei
Künste, deren Rhythmen von verschiedenen