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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Neuntes und zehntes Heft
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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0126

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Kritik der vorexpressionis^
tischen Dichtung
Fortsetzung
IV
Hier ist das Gedicht, das die Kenner und
die Laien für das beste Gedicht Goethes
und sogar für das vollendete deutsche Ge-
dicht halten.
„Über allen Gipfeln ist Ruh
In allen Wipfeln spürest I)u
kaum einen Hauch
Die Vöglein schweigen im Walde
Warte nur balde
ruhest Du auch."
Es sei einmal zugegeben, dass ein Kunst-
werk aus Form und Inhalt besteht. Die
Form wäre darnach ein selbstständigerOrga-
nismus, der dank seiner Eigenschaft jeden
Inhalt aufnimmt. Es gäbe also in der
Kunst eine kleinere und grössere An-
zahl Normalformen, in die der Dichter nur
seine persönliche Seele oder seinen persön-
lichen Geist hineinzugiessen braucht und
das Kunstwerk ist fertig. Nun wird es
keinen Menschen geben, der nicht mit
Recht behauptet, eine persönliche Seele
oder einen persönlichen Geist zu haben.
Es könnte also jeder Mensch dichterische
Kunstwerke schaffen, wenn er sich nur
dieser Normalformen bedient. Dennoch
redet die Menschheit insbesondere die
Kunstkritik von Dilettanten und Künstlern.
Heide Arten der Schaffenden bedienen sich
aber der Normalformen. Hierin kann also
der Unterschied nicht liegen. Es bleibt
der Inhalt. Da nun zweifellos jeder Mensch
Seele und Geist besitzt, also persönliche
Seele und persönlichen Geist, ist eine Wer-
tung des Kunstwerkes nach dem Inhalt aus-
geschlossen. Nun wird eingewandt, dass
das persönliche Erlebnis die Kunst aus-
mache. Es gibt zwar Erlebnisse der Person
aber keine persönlichen Erlebnisse. Denn
die Erlebnisse aller Menschen entstehen
aus den gemeinsamen Trieben der Mensch-
heit. Es ist nicht meine Schuld, dass das
Problem so einfach ist. So einfach, dass
erleuchtete Geister es banal nennen. Jeder
Trieb, auch die Liebe, ist Hunger. Das
heisst die Befriedigung eines Bedürfnisses.
Den Willen zur Befriedigung der Bedürfnisse

nennt man Sehnsucht. Die Befriedigung
erfolgt bei allen menschlichen Trieben stets
durch Aufnahme. Sie fordert also das Vor-
handensein einer anderen Wesenheit. Es
ergibt sich daher aus der menschlichen
Natur, dass die Menschheit als solche auf
Gemeinschaft angewiesen ist. Daher ist
jede Regelung menschlicher Beziehungen
unzulänglich, die nicht von der Gemein-
schaft ausgeht. Sie möge sich auf körper-
liche, seelische oder wirtschaftliche Dinge
beziehen. Nur über eins kommt kein Mensch
dauernd hinweg: über die Einsamkeit. Was
bedeutet das anders als Unfähigkeit oder
Unmöglichkeit zur Befriedigung irgend
welcher Bedürfnisse. Es wird nicht be-
stritten werden, dass Selbstbefriedigung
nur eine Not ist. Sogar eine Notzucht,
denn der Mensch der Selbsbefriedigung
zwingt seine Triebe zu einer Zucht, die
sich gegen die Triebe richtet. Aus dem
Zwang der Gemeinschaft heraus ergibt sich
der Zwang der Einordnung. Jedes Geben
fordert ein Nehmen und jedes Nehmen ein
Geben. Die Ordnung dieser Beziehungen
nennt man Ethik. Diese ethischen For-
derungen, oder nennen wir es einfacher
dieser Ausgleich muss erfolgen, auch wenn
nur zwei Menschen in irgend welche Be-
ziehungen zu einander treten. Da nun alle
Menschen gleich sind, haben sich auch
gleiche Beziehungen ergeben. Die Ord-
nung dieser Beziehungen in Normalformen
nennt man Moral. Nun hat es bekanntlich
in den verschiedenen Zeiten und unter den
verschiedenen Völkern stets verschiedene
moralische Anschauungen gegeben, während
die ethischen Forderungen stets unverändert
geblieben sind und unverändert bleiben.
Auch hierfür ist die Erklärung höchst einfach.
Moral ist nämlich Formulierung der Sitten,
das heisst der Gebräuche. Ethik ist For-
mung der Sittlichkeit. Die Sitte ergibt
sich aus den Zufällen menschlicher
Beziehungen. Die Sittlichkeit aus der
Wesenheit der menschlichen Triebe. Die
Sitte fordert eine Unterordnung, die Sitt-
lichkeit eine Ordnung. Die Sitte wird von
den zufälligen Machthabern diktiert und
ändert sich nach dem Zufall der Macht-
haber. Die Sittlichkeit ist ein Überein-
kommen ein Ausgleich, ein Aufgeben,
um zu nehmen, ein Aufnehmen um zu
geben.

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