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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Neuntes und zehntes Heft
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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0127

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Es gibt also keine persönlichen Erlebnisse.
Erlebnisse von Personen können aber nicht
Inhalt von Kunstwerken sein, weil Kunst
nicht aussagt, sondern gestaltet. Darüber
ist man sich einig, wird eingewandt werden.
Kunst ist Gestaltung des Erlebnisses.
Worin besteht nun diese Gestaltung. Man
nimmt ein Erlebnis und giesst es in eine
der Kunstformen. Ist das Giessen Gestal-
tung. Oder ist es vielleicht doch die For-
mung. Oder kann man etwa durch Giessen
aus einer männlichen Plastik eine weib-
liche machen. In der Dichtung kann man
es. Die Form des Sonetts etwa wird durch
das Erlebnis des Dichters verändert. Wer
schon nicht sehen kann, der möge wenig-
stens hören. Sonett ist Sonett. Das so-
genannte Erlebnis hat so wenig Einfluss
auf die Form des Sonetts, wie sich zwei
verschiedene Lokomotiven mit der gleichen
Fahrgeschwindigkeit auf den gleichen Schie-
nen in der Fahrgeschwindigkeit unter-
scheiden. Die Möglichkeit zur Unterschei-
dung gibt erst die Bewegung. Diese Be-
wegung nennt man in der Kunst Rhyth-
mus. Der Rhythmus der Dichtung ist die
Bewegung der Wörter auf einander und zu
einander. Die Triebe sind selbstverständ-
lich, die Beziehungen sind zu ordnen. Die
Empfindungen sind selbstverständlich, ihre
Gestaltung ist die Kunst.
Nun sollen gerade die Klassiker Meister der
Gestaltung gewesen sein. Es wäre also zu
untersuchen, ob eine Gestaltung vorliegt
und nach welchen künstlerischen Grund-
sätzen nicht etwa nur die Sätze sondern
auch die Wörter geordnet sind. Ich wähle
dieses Gedicht Goethes, das wenigstens
äusserlich scheinbar nicht in eine klassische
Normalform gegossen ist. Es ist zweifellos,
dass mit dem Setzen und Abselzen der Vers-
zeilen eine Absicht des Künstlers sichtbar
wird. Da es sich um Kunstwerke handelt,
kann es nur eine künstlerische Absicht sein.
Es ist ebenso zweifellos, dass die einzelnen
Wörter innerhalb einer Verszeile nach
künstlerischen Absichten gesetzt werden.
Die Absicht insbesondere der Klassiker
wird auch dadurch anerkannt, dass man
ihnen eine sogenannte licentia poetica, eine
dichterische Freiheit, einräumt. Diese dich-
terische Freiheit soll als Entschuldigung
dafür dienen, dass Regeln der Grammatik
zu Gunsten der Gesetze der Kunst absicht-

lich nicht beachtet werden. Insbesondere
gilt diese dichterische Freiheit für die Stel-
lung der Wörter gegen die Regeln des
grammatischen Satzes. Jede Verszeile ist
die metrische Begrenzung oder die metrische
Gliederung des Rhythmus. Hieraus ergibt
sich, dass die Bewegung, der Rhythmus,
innerhalb jeder Verszeile gemessen wird
und zu messen ist. Sonst hätte die metrische
Einteilung nach Verszeilen keinen Sinn und
keine Bedeutung. Aus dem Gedicht Goethes
ergibt sich schon graphisch die Absicht
einer bestimmten Metrik. Jede Verszeile
wird zunächst phonetisch aufgenommen.
Während man in der Musik die einzelnen
Töne noch ihrem Zeitwert empfindet,
empfindet man in der Dichtung die ein-
zelnen Silben nach ihrem Klangwert. Wäh-
rend die Musik das Verhältnis der einzelnen
Töne zu einander mathematisch genau fest-
stellt, wertet die Dichtung das Verhältnis
der einzelnen Wörter zu einander nur nach
dem Klanggefühl. Oder einfacher gesagt:
* man unterscheidet betonte und unbetonte
Silben. Nun hat jedes Wort neben seinem
ursprünglich phonetischen Wert einen Asso-
ziationswert. Dieser Assoziationswert ist
mittelbar. Durch die hörbare Benen-
nung der Dinge werden diese Dinge in der
Vorstellung sichtbar. Und zwar sichtbar
nur in dem Grade, wie der Aufnehmende
Kenntnis von diesen Dingen hat. Wer einen
Gipfel nicht kennt, wird zwar das Wort
hören aber nicht den Gipfel in der Vor-
stellung sehen. Es wird also von vorn-
herein in dieser Art Dichtung mit einem
unkünstlerischcn Mittel gearbeitet, nämlich
mit einer Voraussetzung von Kenntnissen.
Und diese Kenntnisse sind sogar rein ge-
dächtnismässig. Sie beziehen sich nur auf
Benennungen. Nun soll zugegeben werden:
die Kenntnis dieser Benennungen also der
Assoziationswert der Wörter ist so ver-
breitet, dass durch die Benennung immer-
hin eine Vorstellung, eine sichtbare wenn
auch eine unbestimmte erzielt wird. Man
verbindet aber mit der Benennung
eines Dinges durch ein Wort nicht nur
eine sichtbare, sondern auch eine gefühls-
mässige Vorstellung. Es tritt also eine
weitere Assoziation hinzu. Diese gefühls-
mässige Assoziation hängt gleichfalls von
den Kenntnissen des Aufnehmenden ab.
Nämlich von dem Erlebnis der Person

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