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Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

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Neuntes und zehntes Heft
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Walden, Herwarth: Kritik der vorexpressionistischen Dichtung, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0128

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Das Wort Gipfel wird von dem Einzelnen
gefühlsmässig so empfunden, wie er und
nur er und unter welchen Umständen er
einen Gipfel einmal gesehen hat. Um diese
Vieldeutigkeit des Gefühlsmässigen verhält-
nismässig zu Gunsten einer bestimmten
Empfindung einzuschränken, wendet der
Dichter das „Bild" an. Das heisst: er ver-
sucht durch Wortverbindungen eine be-
stimmtere Assoziation zu geben. Um diese
Assoziation in der Vorstellung des Auf-
nehmenden nicht nur sichtbar, auch hör-
bar werden zu lassen braucht der Dichter
den Rhythmus, der das eigentliche und un-
mittelbar künstlerische Mittel der Dichtung
ist. Eine Dichtung ohne rhythmische Ge-
staltung ist nie Kunst, sie ist Aussage. Man
prüfe das Gedicht Goethes auf seinen Rhyth-
mus. Und man höre wie weit die Absicht
der gefühlsmässigen Assoziation rhythmisch
zur Gestaltung gekommen ist.
Über allen Gipfeln ist Ruh
Absicht der gefühlsmässigen Assoziation:
Ruhe. Der Klangwert der Silben gibt
rhythmisch die sichtbare Vorstellung Ruhe.
Nur ist der Satz im gewollten Sinn der ge-
fühlsmässigen Werte der Wörter keine Dich-
tung, er ist eine Aussage. Es wird aus-
gesagt, dass über allen Gipfeln Ruhe ist.
Dadurch wird die Vorstellung Ruhe nicht
sichtbar, sie wird nur verstandesmässig zur
Kenntnis gegeben. Es scheint auch nicht
sehr ruhig zu sein, denn in der zweiten
Zeile heisst es:
In allen Wipfeln spürest Du
In dieser zweiten Zeile liegt eine andere
hörbare Wirkung vor. Der Klangwert der
Silbe spü gibt der Zeile eine stärkere Be-
wegung schon ohne den Assoziationswert
des Wortes spüren. Auch diese Zeile ist
eine Aussage. Der Dichter behauptet, dass
über allen Gipfeln Ruhe sei und dass ich
in allen Wipfeln spüre, was er weder fühlen
noch wissen, sondern höchstens behaupten
kann. Daher dritte Zeile
Kaum einen Hauch
Wer jetzt nicht schon das Wesen und das
Wesentliche des Rhythmus in der Dichtung
empfindet, ist so verbildet, dass er kaum
noch die Fähigkeit zur Anschauung eines
Kunstwerkes erlangen wird. Der intelli-
gente Leser wird einwenden, dass man
eben die zweite und dritte Zeile zusammen
lesen muss. Muss? Darf man es auch nur

tun, wenn Goethe diese zweite und dritte
Zeile sichtbar trennt, metrisch trennt. Das
muss doch wohl eine künstlerische Absicht
sein. Oder will man Goethe damit ver-
teidigen, dass eben hier keine künstlerische
Absicht vorliegt. Dass er zum Spass die
dritte Zeile hinter die zweite gestellt hat.
Oder will man Goethe damit verteidigen,
dass er sich um den Rhythmus einer Dich-
tung nicht kümmert. Oder will man etwa
behaupten, dass es kleinlich sei, weil ich
Goethe so lese, wie er es gewollt hat. Aber
man ändere das graphische Bild:
In allen Wipfeln spürest Du kaum
einen Hauch.
Wer will behaupten, der hören kann, dass
in diesem Rhythmus kaum ein Hauch zu
spüren ist. Der Rhythmus gibt genau das
Gegenteil des Gefühlswerts dieser Zeile, die
aber gar keinen Gefühlswert hat, sondern
wieder eine Aussage ist. Und zwar eine
Aussage nicht einmal des Dichters sondern
eine Behauptung über die Aufnahme eines
andern durch seine Aussage.
Die Vöglein schweigen im Walde
Absicht der gefühlsmässigen Assoziation:
Ruhe. Der Klangwert der Silben gibt rhyth-
misch die hörbare Vorstellung: Klingen.
Also das Gegenteil der gefühlsmässigen Ab-
sicht. Auf die betonte Silbe Schwei folgen
zwei unbetonte Silben „gen" „im", die durch
Rhythmus zusammen phonetisch eine leichte
Bewegung ergeben. Die Verszeile selbst ist
wieder Aussage, und als solche nicht sinn-
fällig, sie wird rein verstandesgemäss auf-
genommen.
Warte nur balde
in dieser Zeile liegt überhaupt keine ge-
fühlsmässige Assoziation. Sie ist eine An-
sprache an den Leser. In der rhythmischen
Wirkung von neckischem Tonfall. Daher:
Ruhest Du auch
Auch diese Zeile ist ohne gefühlsmässigen
Wert. Sie ist eine Aussage über eine Tätig-
keit des Aufnehmenden. Der intelligente
Leser kann sich bei dieser Zeile viel denken.
Nämlich die gefühlsmässigen Assoziationen
des Begriffs Ruhe. Und zwar je nach Tem-
perament, Schlaf oder Tod. Die künst-
lerisch scheinbar gewollte Assoziation er-
gibt sich zwar nicht aus dieser einen Zeile,
was künstlerisch gefordert werden müsste.
Sie ergibt Sich hörhstfns dnrrh RfTiotiinirt

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