deutig Schlaf. Diese Assoziation wird durch
die Zeile „Die Vöglein schweigen im Walde"
erzwungen. Ob Goethe nicht etwa den
tiefen Gedanken des Todes — der Mensch
muss sterben — beabsichtigt hat, bleibt
einer ebenso tiefen Denkkraft des Lesers
überlassen. Rhythmisch hörbar gibt diese
Zeile zweifellos nur die Vorstellung des
Einschläferns.
Ergebnis der Untersuchung: Eine künst-
lerische Gestaltung der Wortverbindungen
Jiegt nicht vor. Metrik und Rhythmik des
'Gedichtes sind willkürlich. Nicht einmal
die Absicht der künstlerischen Logik ist
erkennbar. Die Klangwerte der Silben sind
nicht beachtet. Ein Gefühlswert der Wort-
verbindungen entsteht nur durch Nach-
denkvorstellungen. Das künstlerische Mittel
der assoziativen Dichtung, das Rild, ist
weder im logischen noch im alogischen
Sinne angewandt. Die einzelnen Verszeilen
enthalten ausschliesslich Aussagen, Behaup-
tungen und Ansprachen. Und sogar die
Denkvorstellung ist nur durch Vernichtung
der willkürlichen Metrik und Rhythmik
dieses Gedichtes möglich.
Worin besteht nun die Wirkung dieses Ge-
dichtes auf den Leser. Eine künstlerische
Wirkung kann es nicht sein, wie nach-
gewiesen wurde. Die Wirkung beruht in
der Assoziationsfähigkeit des Lesers, der
sich gewöhnt hat, bei der Nennung von
Begriffen Erinnerungsmomente in sich aus-
zulösen. Die künstlerische Arbeit, nämlich
die Erregung der Vorstellungskraft, leistet
also nicht der Dichter. Sie wird vom Auf-
nehmenden durch unkünstlerische Mittel
geleistet. Kunst wird zweifellos durch die
Sinne aufgenommen, sie muss also sichtbar
oder hörbar sein. Das ist eine Erinnerung
niemals. Ein Begriff ist stets die Moral
von der Geschichte. Das heisst der mecha-
nisierte Gebrauch von Erfahrungen.
Fortsetzung folgt
Briefe an Paul Westheim
Zweiter Brief
Vielleicht, Herr Westheim, erinnern Sie sich
noch an Einiges, das mein erster Brief ent-
hielt. Ich hatte damit begonnen, Ihre
Versuche, sich im Kunstblatt gegenüber
Waldens Angriffen zu rechtfertigen, einer
sehr genauen Prüfung zu unterziehen. Sie
waren so unvorsichtig gewesen, die Ände-
rung Ihrer „Stellungnahme zu einzelnen
Künstlern" damit zu erklären, dass Sie uns
eine sonderbare Belehrung zukommen
Hessen: Künstler seien keine Maschinen, die
sich in ihren Produktionen ein für alle Mal
gleich bleiben. Ich hatte Ihnen versprochen,
nachzuweisen, dass Sie nicht einzelnen,
sondern hundert Künstlern gegenüber Ihre
Stellung geändert haben, und das erfordert,
dass ich mich nun tiefer in das Gestrüpp
Ihrer Sätze hineinbegebe.
„So hat z. B. Kandinsky, ehe er zu seiner
sogenannten absoluten Malerei kam, sich
erst aus der Banalität seiner Landschafts- und
Genrebildchen herausentwickeln müssen."
Was ist denn geschehen, Herr Westheim?
Wo hatten Sie denn Ihre vier Sinne, als
Sie diesen Satz schrieben? Herr Westheim,
Herr Westheim, dieser Satz bricht Ihnen —
nein, Sie gehören zu denen, die immer
wieder auf die Füsse fallen. Aber dieser
Satz bringt Sie um den letzten Rest Ihres
— wie nenn ich das — die Sprache hat
kein Wort. Und ich fürchte, das Jahr 1920
wird zu Ende gehen, ehe ich zeige, wie Sie
aus diesem Satz in den nächsten hinein-
stolpern. Seien Sie geduldig. Ich werde
Sie schon im Netz Ihres Satzes fangen. Die
„sogenannte absolute Malerei" könnte ich
Ihnen freilich bis auf Weiteres hingehen
lassen. Ich müsste Ihnen auch wohl erst
erklären, was die absolute Malerei ist, der
Sie mit Ihrem überlegen tuenden „soge-
nannten" so nebenbei und hinterrücks einen
Stich versetzen. Denn dass Sie nicht wissen,
was absolute Malerei ist, dafür gibt es genug
Beweise, mit denen ich noch aufwarten
werde. Aber gerade dieses„sogenannte''macht
das Scheusal Ihres Satzes noch ungeheuer-
licher. Was wollten Sie denn mit diesem
Satz? Denken Sie nach, Herr Westheim,
wenn das nicht schon zu viel von Ihnen
verlangt ist. Sie wollten beweisen, dass
Künstler keine Maschinen sind, die sich in
ihren Produktionen gleich bleiben, und Sie
beriefen sich auf nichts Kleineres als das
Lebens werk Kandinsky s. Oder vielmehr,
Sie wollen es nicht beweisen. Denn Sie
glauben gar nicht, dem Sturm so etwas
klar machen zu können. Aber Sie wollen
ihren Lesern erzählen, dass wir im Sturm
die Entwicklung der Kandinskyschen Ma-
125
die Zeile „Die Vöglein schweigen im Walde"
erzwungen. Ob Goethe nicht etwa den
tiefen Gedanken des Todes — der Mensch
muss sterben — beabsichtigt hat, bleibt
einer ebenso tiefen Denkkraft des Lesers
überlassen. Rhythmisch hörbar gibt diese
Zeile zweifellos nur die Vorstellung des
Einschläferns.
Ergebnis der Untersuchung: Eine künst-
lerische Gestaltung der Wortverbindungen
Jiegt nicht vor. Metrik und Rhythmik des
'Gedichtes sind willkürlich. Nicht einmal
die Absicht der künstlerischen Logik ist
erkennbar. Die Klangwerte der Silben sind
nicht beachtet. Ein Gefühlswert der Wort-
verbindungen entsteht nur durch Nach-
denkvorstellungen. Das künstlerische Mittel
der assoziativen Dichtung, das Rild, ist
weder im logischen noch im alogischen
Sinne angewandt. Die einzelnen Verszeilen
enthalten ausschliesslich Aussagen, Behaup-
tungen und Ansprachen. Und sogar die
Denkvorstellung ist nur durch Vernichtung
der willkürlichen Metrik und Rhythmik
dieses Gedichtes möglich.
Worin besteht nun die Wirkung dieses Ge-
dichtes auf den Leser. Eine künstlerische
Wirkung kann es nicht sein, wie nach-
gewiesen wurde. Die Wirkung beruht in
der Assoziationsfähigkeit des Lesers, der
sich gewöhnt hat, bei der Nennung von
Begriffen Erinnerungsmomente in sich aus-
zulösen. Die künstlerische Arbeit, nämlich
die Erregung der Vorstellungskraft, leistet
also nicht der Dichter. Sie wird vom Auf-
nehmenden durch unkünstlerische Mittel
geleistet. Kunst wird zweifellos durch die
Sinne aufgenommen, sie muss also sichtbar
oder hörbar sein. Das ist eine Erinnerung
niemals. Ein Begriff ist stets die Moral
von der Geschichte. Das heisst der mecha-
nisierte Gebrauch von Erfahrungen.
Fortsetzung folgt
Briefe an Paul Westheim
Zweiter Brief
Vielleicht, Herr Westheim, erinnern Sie sich
noch an Einiges, das mein erster Brief ent-
hielt. Ich hatte damit begonnen, Ihre
Versuche, sich im Kunstblatt gegenüber
Waldens Angriffen zu rechtfertigen, einer
sehr genauen Prüfung zu unterziehen. Sie
waren so unvorsichtig gewesen, die Ände-
rung Ihrer „Stellungnahme zu einzelnen
Künstlern" damit zu erklären, dass Sie uns
eine sonderbare Belehrung zukommen
Hessen: Künstler seien keine Maschinen, die
sich in ihren Produktionen ein für alle Mal
gleich bleiben. Ich hatte Ihnen versprochen,
nachzuweisen, dass Sie nicht einzelnen,
sondern hundert Künstlern gegenüber Ihre
Stellung geändert haben, und das erfordert,
dass ich mich nun tiefer in das Gestrüpp
Ihrer Sätze hineinbegebe.
„So hat z. B. Kandinsky, ehe er zu seiner
sogenannten absoluten Malerei kam, sich
erst aus der Banalität seiner Landschafts- und
Genrebildchen herausentwickeln müssen."
Was ist denn geschehen, Herr Westheim?
Wo hatten Sie denn Ihre vier Sinne, als
Sie diesen Satz schrieben? Herr Westheim,
Herr Westheim, dieser Satz bricht Ihnen —
nein, Sie gehören zu denen, die immer
wieder auf die Füsse fallen. Aber dieser
Satz bringt Sie um den letzten Rest Ihres
— wie nenn ich das — die Sprache hat
kein Wort. Und ich fürchte, das Jahr 1920
wird zu Ende gehen, ehe ich zeige, wie Sie
aus diesem Satz in den nächsten hinein-
stolpern. Seien Sie geduldig. Ich werde
Sie schon im Netz Ihres Satzes fangen. Die
„sogenannte absolute Malerei" könnte ich
Ihnen freilich bis auf Weiteres hingehen
lassen. Ich müsste Ihnen auch wohl erst
erklären, was die absolute Malerei ist, der
Sie mit Ihrem überlegen tuenden „soge-
nannten" so nebenbei und hinterrücks einen
Stich versetzen. Denn dass Sie nicht wissen,
was absolute Malerei ist, dafür gibt es genug
Beweise, mit denen ich noch aufwarten
werde. Aber gerade dieses„sogenannte''macht
das Scheusal Ihres Satzes noch ungeheuer-
licher. Was wollten Sie denn mit diesem
Satz? Denken Sie nach, Herr Westheim,
wenn das nicht schon zu viel von Ihnen
verlangt ist. Sie wollten beweisen, dass
Künstler keine Maschinen sind, die sich in
ihren Produktionen gleich bleiben, und Sie
beriefen sich auf nichts Kleineres als das
Lebens werk Kandinsky s. Oder vielmehr,
Sie wollen es nicht beweisen. Denn Sie
glauben gar nicht, dem Sturm so etwas
klar machen zu können. Aber Sie wollen
ihren Lesern erzählen, dass wir im Sturm
die Entwicklung der Kandinskyschen Ma-
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