„Die Unbedenkiichen"
„Es wäre wohl widersinnig, nicht zu er-
warten, dass eine so ganz aus allen Gleisen
geratene Zeit nicht auch ihre Unmoral in
die Kunst hineinprojizieren würde!" Hin-
ein in die entgleiste aber immerhin noch
projizierende Zeit putscht ein Moralischer:
„Die Erniedrigung der Grossen und die
lächerliche Aufputschung der Kleinen, dieser
Mangel an Distanz- und Verantwortlich-
keitsgefühl ist gegenwärtig geradezu an der
Tagesordnung." Das kann der Herr Paul
Westheim, der Herausgeber des Kunstblatts
von Potsdam, der grosse Moralist, nicht
länger dulden. Er, der sich immer gegen
die Erniedrigung der Grossen gewandt hat.
Schrieb er doch schon 1912 über Marc, Kan-
dinsky und ihre Freunde: „Spekulative
Unlogik. Musik von Taubstummen und
für Taubstumme." Schrieb er doch schon
1913: „Statt des Stuckrezeptes gibt es jetzt
ein bischen Kandinsky, ein bischen Picasso
oder was sonst gerade im Cafe Stefanie im
Kurs ist." Hingegen hat sich, Herr Paul
Westheim mit Distanzgefühl in PaulaModer-
sohn, Felix Müller und Lehmbruck hinein-
projiziert. Dieser Herr Westheim wagt zu
schreiben: „Die Sudelküche, die ganz be-
besonders mit der jungen Kunst betrieben
wird, beweist nicht nur Geschmacklosigkeit
sondern enthüllt die sehr traurige Tatsache,
dass überhaupt kein wirkliches und inneres
Verhältnis zu diesem neuen Werden be-
steht." Da sieht der Betrieb der Sudel-
küche des Herrn Westheim ganz anders
aus: „Ob es in einer Zeit, wie der gegen-
wärtigen, Innerlichkeit und überweltlichen
Drang genug gibt, um Plastik von dieser
geistigen Beschwingthcit wieder zum Ent-
stehen zu bringen?! Das Werk des Lehm-
bruck und das Werk des Barlach, vielleicht
auch das des Archipenko, sind, meine ich
auf die Frage zureichende Antwort." Viel-
leicht, meint er, Archipenko. Aber sein
sicherer Lehmbruck enthüllt die sehr trau-
rige Tatsache, dass überhaupt kein wirk-
liches und inneres Verhältnis zu diesem
neuen Werden besteht. Also erklärt Paul
Westheim das wirkliche und innere Ver-
hältnis: „Es genügt, irgend eine der Fi-
guren von Lehmbruck genau — aber wirk-
lich einmal ganz genau — anzusehen, sie
gewissermassen einmal von Kopf bis zu
Fuss auf die Echtheit und Gediegenheit der
Mache hin abzutasten." Oha, denkt der
distanzierte Leser, gewissermassen ist dieser
Herr Westheim ein wirklicher Kenner, er
tastet die Plastik ab. Aber das ist dem
Herrn Westheim noch lange nicht genug:
„Nehmen wir einmal solch ein Bein, solch
überlange?; wie ist das trotz der be-
fremdenden Form alles echt, jeder Muskel
richtig." Habe ich es nicht geahnt, er ist
ein guter und echter Kenner der Herr
Westheim, trotz dem überlangen Bein. Wo-
rauf er innerlich wird. Das neue Werden,
vaschtehste: „Mit welch unendlicher Zartheit
des Empfindens ist da ein Künstler her-
angegangen an das Fleischliche. Welche
Sensihiiität spricht aus einer Hand, die
ein Stück Schenkel, eine Hütte, eine Rücken-
partie so lebenswarm umzusetzen vermag."
Ja, die Künstler. Die verstehen es, an das
Fleischliche heranzugehen, dass aus einer
Hand eine Hüfte spricht. Das, sehr ge-
ehrter Leser, ist der berühmte Expressi-
onismus. Herr Westheim kann sich vor
innerem Verhältnis gar nicht mehr halten:
„Wenn man will, hier lohnt es sich ganz
besonders, dem Körperlichen einmal stück-
weise nachzugehen. Die Gegend um Brust
und Bauch herum, das glastet vor Leben-
digkeit, oha, das ist gut, das ist echt." Oha,
da haben wir ihn, den Expressionismus
und gewissermassen stückweise. Oha, das
ist gut. Oha, das ist echt. Guter, echter
Westheim. Besonders, da die Figur ober-
halb der genannten Gegenden noch einen
„Iphigenienzug" hat. Herr Westheim ist
zerschmettert: „Welche sublime Ergriffen-
heit." Den Iphigenienzug kennt man. Die
Zeit ist doch nicht aus allen Geleisen ge-
raten. Herr Westheim fährt mit Iphigenien
in das neue Werden der jungen Kunst.
Beim Aussteigen ruft Herr Westheim aus:
„Selbstverständlich muss auch einmal aus
derlei Narkosen das Erwachen kommen
und dann wird das getäuschte und ent-
täuschte Publikum nicht nur die chimä-
rischen Halbgötter zerschlagen, die man
es anzustammeln gelehrt hat." Man gibt
dann noch eine kleine Anekdote: „Früher
in besseren Zeiten, gab es auf den Jahr-
märkten die netten Gummischweinchen,
die von den Jungens aufgepustet werden.
Schön prall und stattlich waren sie anzu-
sehen, bis ihnen mit einem Quietschen die
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„Es wäre wohl widersinnig, nicht zu er-
warten, dass eine so ganz aus allen Gleisen
geratene Zeit nicht auch ihre Unmoral in
die Kunst hineinprojizieren würde!" Hin-
ein in die entgleiste aber immerhin noch
projizierende Zeit putscht ein Moralischer:
„Die Erniedrigung der Grossen und die
lächerliche Aufputschung der Kleinen, dieser
Mangel an Distanz- und Verantwortlich-
keitsgefühl ist gegenwärtig geradezu an der
Tagesordnung." Das kann der Herr Paul
Westheim, der Herausgeber des Kunstblatts
von Potsdam, der grosse Moralist, nicht
länger dulden. Er, der sich immer gegen
die Erniedrigung der Grossen gewandt hat.
Schrieb er doch schon 1912 über Marc, Kan-
dinsky und ihre Freunde: „Spekulative
Unlogik. Musik von Taubstummen und
für Taubstumme." Schrieb er doch schon
1913: „Statt des Stuckrezeptes gibt es jetzt
ein bischen Kandinsky, ein bischen Picasso
oder was sonst gerade im Cafe Stefanie im
Kurs ist." Hingegen hat sich, Herr Paul
Westheim mit Distanzgefühl in PaulaModer-
sohn, Felix Müller und Lehmbruck hinein-
projiziert. Dieser Herr Westheim wagt zu
schreiben: „Die Sudelküche, die ganz be-
besonders mit der jungen Kunst betrieben
wird, beweist nicht nur Geschmacklosigkeit
sondern enthüllt die sehr traurige Tatsache,
dass überhaupt kein wirkliches und inneres
Verhältnis zu diesem neuen Werden be-
steht." Da sieht der Betrieb der Sudel-
küche des Herrn Westheim ganz anders
aus: „Ob es in einer Zeit, wie der gegen-
wärtigen, Innerlichkeit und überweltlichen
Drang genug gibt, um Plastik von dieser
geistigen Beschwingthcit wieder zum Ent-
stehen zu bringen?! Das Werk des Lehm-
bruck und das Werk des Barlach, vielleicht
auch das des Archipenko, sind, meine ich
auf die Frage zureichende Antwort." Viel-
leicht, meint er, Archipenko. Aber sein
sicherer Lehmbruck enthüllt die sehr trau-
rige Tatsache, dass überhaupt kein wirk-
liches und inneres Verhältnis zu diesem
neuen Werden besteht. Also erklärt Paul
Westheim das wirkliche und innere Ver-
hältnis: „Es genügt, irgend eine der Fi-
guren von Lehmbruck genau — aber wirk-
lich einmal ganz genau — anzusehen, sie
gewissermassen einmal von Kopf bis zu
Fuss auf die Echtheit und Gediegenheit der
Mache hin abzutasten." Oha, denkt der
distanzierte Leser, gewissermassen ist dieser
Herr Westheim ein wirklicher Kenner, er
tastet die Plastik ab. Aber das ist dem
Herrn Westheim noch lange nicht genug:
„Nehmen wir einmal solch ein Bein, solch
überlange?; wie ist das trotz der be-
fremdenden Form alles echt, jeder Muskel
richtig." Habe ich es nicht geahnt, er ist
ein guter und echter Kenner der Herr
Westheim, trotz dem überlangen Bein. Wo-
rauf er innerlich wird. Das neue Werden,
vaschtehste: „Mit welch unendlicher Zartheit
des Empfindens ist da ein Künstler her-
angegangen an das Fleischliche. Welche
Sensihiiität spricht aus einer Hand, die
ein Stück Schenkel, eine Hütte, eine Rücken-
partie so lebenswarm umzusetzen vermag."
Ja, die Künstler. Die verstehen es, an das
Fleischliche heranzugehen, dass aus einer
Hand eine Hüfte spricht. Das, sehr ge-
ehrter Leser, ist der berühmte Expressi-
onismus. Herr Westheim kann sich vor
innerem Verhältnis gar nicht mehr halten:
„Wenn man will, hier lohnt es sich ganz
besonders, dem Körperlichen einmal stück-
weise nachzugehen. Die Gegend um Brust
und Bauch herum, das glastet vor Leben-
digkeit, oha, das ist gut, das ist echt." Oha,
da haben wir ihn, den Expressionismus
und gewissermassen stückweise. Oha, das
ist gut. Oha, das ist echt. Guter, echter
Westheim. Besonders, da die Figur ober-
halb der genannten Gegenden noch einen
„Iphigenienzug" hat. Herr Westheim ist
zerschmettert: „Welche sublime Ergriffen-
heit." Den Iphigenienzug kennt man. Die
Zeit ist doch nicht aus allen Geleisen ge-
raten. Herr Westheim fährt mit Iphigenien
in das neue Werden der jungen Kunst.
Beim Aussteigen ruft Herr Westheim aus:
„Selbstverständlich muss auch einmal aus
derlei Narkosen das Erwachen kommen
und dann wird das getäuschte und ent-
täuschte Publikum nicht nur die chimä-
rischen Halbgötter zerschlagen, die man
es anzustammeln gelehrt hat." Man gibt
dann noch eine kleine Anekdote: „Früher
in besseren Zeiten, gab es auf den Jahr-
märkten die netten Gummischweinchen,
die von den Jungens aufgepustet werden.
Schön prall und stattlich waren sie anzu-
sehen, bis ihnen mit einem Quietschen die
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