Feststellung. Jede Feststellung ist subjektiv,
denn sie hängt von dem Feststellenden ab,
ist also mittelbar. Daher haben Beschrei-
bungen mit Kunst nichts zu tun, auch wenn
es Beschreibungen der Seele sind, auch
wenn die Sprache noch so schön und edel
ist, wie man es nennt. Der Künstler hat
als Material nicht die Sprache, sondern das
Wort. Das Wort ist unmittelbar, denn es
ist die typische Gestaltung eines äussern
oder inneren Erlebnisses. Die Zusammen-
stellung der Wörter, ihre Komposition, ist
das dichterische Kunstwerk. Wörter sind
Klanggebärden. Die organische das heisst
optisch gegliederte Gestaltung der Gebärden
ergibt das Kunstwerk Tanz. Die organische
das heisst phonetisch gegliederte Gestaltung
der Klanggebärden ergibt das Kunstwerk
Dichtung. Die seelische Auslösung des
Kunstwerks hängt von dem Aufnehmenden
ab. Sie ist also nicht eindeutig und vor allem
nicht zweideutig, sie ist vieldeutig. Es ist
nicht die Aufgabe eines Kunstwerks, deut-
bar zu sein oder bestimmte Gefühle aus-
zulösen. Es ist die undeutbare Wirkung
eines Kunstwerks, körperlich und seelisch
zu bewegen. Bewegung wird nur durch
Bewegung ausgelöst. Deshalb ist das Wesen
jedes Kunstwerks sein Rhythmus. Die Aus-
lösung dieser Bewegung in der Musik ist
so sinnfällig, dass sie niemand bezweifelt
und ihr niemand widersteht. Die Aus-
lösung dieser Bewegung in den andern
Künsten ist ebenso sinnfällig. Sie wird
weniger leicht aufgenommen, weil man
sich gewöhnt hat, mit dem Verstand statt
mit den Augen zu sehen, und weil man
die Dichtung durch den Verstand und nicht
durch das Ohr aufnimmt. Man sucht in
der Dichtung etwas Kunstfremdes. Nämlich
Uebermittlung von Gedanken. Aber selbst
die Uebermittlung bestimmter Empfindungen
ist kunstfremd, denn jede Empfindung wird
von jedem Empfindenden anders aufge-
nommen. Und vor allem von dem Ge-
bildeten, das heisst dem Menschen, der sich
auf eine willkürliche Aufnahmefähigkeit
bewusst einstellt.
Fortsetzung folgt
Briefe an Paul Westheim
Zur Geschichte des Sturm und des deut-'
sehen Journalismus
Wer mit Schmutz kämpft, wird
ihn, Sieger oder Besiegter, be-
sudelt verlassen.
Unbekannter Verfasser
Jetzt übergebe ich unter dem
Zwang systematischer Verleum-
dungen das gesamte „Material"
für alle vergangenen und kom-
_ menden Fälle meinem Freund
Rudolf Bliimner, der es ver-
wenden wird, wie es ihm not-
wendig und recht erscheint.
Herwarth Waiden, Fall Westheim
Der Sturm / XI. Jahrgang j 4. Heft
Erster Brief
Man weiss, dass ich schon einige Male ge-
zwungen war, Ihnen auf die Finger zu
klopfen, weil ich sie dort erblickte, wo ich
sie ein für a!le mal nicht sehen wollte.
Die Menschheit, die gegen Herausgeber un-
kritischer Zeitschriften zu allen Zeiten sehr
nachsichtig war, weiss noch nicht, dass die
kleinen Schläge, die ich Ihnen erteilt habe,
müde Züchtigung für das war, was Sie sich
bisher haben zu schulden kommen lassen.
Zwar hat Sie Herr Kiepenheuer nach dem
Erscheinen Ihres Lehmbruck-Buches noch
nicht zum Teufel gejagt. Und so mögen
Sie sich denn weiter an einigen künstle-
rischen Problemen versuchen. Aber Sie
sind vorsichtiger geworden und lassen Herrn
von Jawlensky lieber von einem anderen
loben. Mit Recht. Denn es muss keine
erfreuliche, ja sogar eine recht widerliche
Beschäftigung für Sie sein, Ihre früheren
Besprechungen durchzulescn. Und der
Kuckuck soll wissen, ob man vielleicht früher
einmal Herrn von Jawlensky aufs Gerate-
wohl einen Schmierßnken genannt oder
noch ein paar derbere Ausdrücke für ihn
bereit gehabt hat. Möglich wäre es ja.
Denn man erinnert sich dunkel, dass man
vor Jahren die Arbeiten der ganzen Gruppe
um Herrn von Jawlensky letzten Münchener
Kitsch genannt hat. Ich lobe also Ihre Vor-
sicht. Aber was nützt sie Ihnen, da Sie doch
so unvorsichtig waren, in dem gleichen Heft
Ihres Kunstblatts sich einige Betrachtungen
über Expressionismus zu gestatten. Und
allgemeine Betrachtungen über Expressio-
nismus waren es, derenwegen ich Ihnen
auf die Finger klopfen musste. Aber Sie
haben es sich wahrlich selbst zuzuschreiben,
wenn ich dieses Mal zum Stock greifen muss,
100
denn sie hängt von dem Feststellenden ab,
ist also mittelbar. Daher haben Beschrei-
bungen mit Kunst nichts zu tun, auch wenn
es Beschreibungen der Seele sind, auch
wenn die Sprache noch so schön und edel
ist, wie man es nennt. Der Künstler hat
als Material nicht die Sprache, sondern das
Wort. Das Wort ist unmittelbar, denn es
ist die typische Gestaltung eines äussern
oder inneren Erlebnisses. Die Zusammen-
stellung der Wörter, ihre Komposition, ist
das dichterische Kunstwerk. Wörter sind
Klanggebärden. Die organische das heisst
optisch gegliederte Gestaltung der Gebärden
ergibt das Kunstwerk Tanz. Die organische
das heisst phonetisch gegliederte Gestaltung
der Klanggebärden ergibt das Kunstwerk
Dichtung. Die seelische Auslösung des
Kunstwerks hängt von dem Aufnehmenden
ab. Sie ist also nicht eindeutig und vor allem
nicht zweideutig, sie ist vieldeutig. Es ist
nicht die Aufgabe eines Kunstwerks, deut-
bar zu sein oder bestimmte Gefühle aus-
zulösen. Es ist die undeutbare Wirkung
eines Kunstwerks, körperlich und seelisch
zu bewegen. Bewegung wird nur durch
Bewegung ausgelöst. Deshalb ist das Wesen
jedes Kunstwerks sein Rhythmus. Die Aus-
lösung dieser Bewegung in der Musik ist
so sinnfällig, dass sie niemand bezweifelt
und ihr niemand widersteht. Die Aus-
lösung dieser Bewegung in den andern
Künsten ist ebenso sinnfällig. Sie wird
weniger leicht aufgenommen, weil man
sich gewöhnt hat, mit dem Verstand statt
mit den Augen zu sehen, und weil man
die Dichtung durch den Verstand und nicht
durch das Ohr aufnimmt. Man sucht in
der Dichtung etwas Kunstfremdes. Nämlich
Uebermittlung von Gedanken. Aber selbst
die Uebermittlung bestimmter Empfindungen
ist kunstfremd, denn jede Empfindung wird
von jedem Empfindenden anders aufge-
nommen. Und vor allem von dem Ge-
bildeten, das heisst dem Menschen, der sich
auf eine willkürliche Aufnahmefähigkeit
bewusst einstellt.
Fortsetzung folgt
Briefe an Paul Westheim
Zur Geschichte des Sturm und des deut-'
sehen Journalismus
Wer mit Schmutz kämpft, wird
ihn, Sieger oder Besiegter, be-
sudelt verlassen.
Unbekannter Verfasser
Jetzt übergebe ich unter dem
Zwang systematischer Verleum-
dungen das gesamte „Material"
für alle vergangenen und kom-
_ menden Fälle meinem Freund
Rudolf Bliimner, der es ver-
wenden wird, wie es ihm not-
wendig und recht erscheint.
Herwarth Waiden, Fall Westheim
Der Sturm / XI. Jahrgang j 4. Heft
Erster Brief
Man weiss, dass ich schon einige Male ge-
zwungen war, Ihnen auf die Finger zu
klopfen, weil ich sie dort erblickte, wo ich
sie ein für a!le mal nicht sehen wollte.
Die Menschheit, die gegen Herausgeber un-
kritischer Zeitschriften zu allen Zeiten sehr
nachsichtig war, weiss noch nicht, dass die
kleinen Schläge, die ich Ihnen erteilt habe,
müde Züchtigung für das war, was Sie sich
bisher haben zu schulden kommen lassen.
Zwar hat Sie Herr Kiepenheuer nach dem
Erscheinen Ihres Lehmbruck-Buches noch
nicht zum Teufel gejagt. Und so mögen
Sie sich denn weiter an einigen künstle-
rischen Problemen versuchen. Aber Sie
sind vorsichtiger geworden und lassen Herrn
von Jawlensky lieber von einem anderen
loben. Mit Recht. Denn es muss keine
erfreuliche, ja sogar eine recht widerliche
Beschäftigung für Sie sein, Ihre früheren
Besprechungen durchzulescn. Und der
Kuckuck soll wissen, ob man vielleicht früher
einmal Herrn von Jawlensky aufs Gerate-
wohl einen Schmierßnken genannt oder
noch ein paar derbere Ausdrücke für ihn
bereit gehabt hat. Möglich wäre es ja.
Denn man erinnert sich dunkel, dass man
vor Jahren die Arbeiten der ganzen Gruppe
um Herrn von Jawlensky letzten Münchener
Kitsch genannt hat. Ich lobe also Ihre Vor-
sicht. Aber was nützt sie Ihnen, da Sie doch
so unvorsichtig waren, in dem gleichen Heft
Ihres Kunstblatts sich einige Betrachtungen
über Expressionismus zu gestatten. Und
allgemeine Betrachtungen über Expressio-
nismus waren es, derenwegen ich Ihnen
auf die Finger klopfen musste. Aber Sie
haben es sich wahrlich selbst zuzuschreiben,
wenn ich dieses Mal zum Stock greifen muss,
100