Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Der Sturm: Monatsschrift für Kultur und die Künste — 11.1920

DOI issue:
Siebentes und achtes Heft
DOI article:
Briefe an Paul Westheim: Zur Geschichte des Sturm und des deutschen Journalismus
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.37133#0105

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
so leid es mir tut, einen Mann, der durch-
aus ernst genommen werden will, vor aller
Welt erbarmungslos zu züchtigen. Mein
Bedauern werden alle die für aufrichtig
halten, die wissen, dass ich zwar die Händel
nicht suche, aber immerhin den Satz: „Wer
die Wahrheit kennet und saget sie nicht, der
ist fürwahr ein erbärmlicher Wicht", nicht
bloss bei Kommersen und in der Betrunken-
heit gröhle. Auf denn, Herr Westheim!
Unternehmen Sie, was Ihnen beliebt, um
mich zu bekämpfen. Stochern Sie weiter
in der deutschen Sprache herum. Viel-
leicht gelingen Ihnen einige Sätze, die gut
genug sind, dass kein Oberlehrer sie dem
letzten seiner Klasse um die Ohren schlägt.
Spüren Sie meiner Vergangenheit nach.
Vielleicht entdecken Sie irgend ein Ereignis,
das Sie einen „Fall" nennen könnten. Wie
zum Beispiel, dass mir vor Jahren in einem
Katfee mein Überzieher gestohlen wurde,
oder dass mich der Theaterkritiker Fritz
Engel für den talentlosesten aller Schau-
spieler erklärt hat. Auf, Herr Westheim!
Greifen Sie zu Ihren Walfen. Ich brauche
mich nicht zu übereilen. Ich habe Zeit.
Und hoffentlich Sie auch. Wir wollen sehen,
wer von uns beiden mit Hilfe der deutschen
Sprache mehr ausrichten wird, Sie oder
ich. Sie haben für alle Zeiten das Recht
verloren, eine Meinung zu äussern, denn Sie
haben für sich bereits das Recht in Anspruch
genommen, keine Meinung zu haben. Und
wenn Sie Herr Kiepenheuer noch nicht zum
Teufel gejagt hat: ich werde Sie in der
Meinung derer, die sich die Achtung vor
der heute so seltenen Makellosigkeit des
Urteils bewahrt haben, so zeigen, wie Sie
sind. Ich hoffe dabei, dass weder Sie noch
die Leser sich langweilen werden. Es wird
keine fade Chronologie sein. Ich will mir
die Freiheit nehmen, meine Sprünge so zu
machen, wie es mir gefällt. Sie dürfen also
nicht die Geduld verlieren. Ich werde es
Ihnen schon sagen, wenn ich mit meinen
Anklagen und Dokumenten am Ende bin.
Einige Zeit freilich mag es dauern. Mein
Verdienst ist es nicht, wenn es ein dickes
Buch wird. Und es ist auch nicht meine
Schuld, wenn ich ausser an Ihnen noch
an anderen herumzupte. Aber alles findet
seine Zeit, auch meine Indiskretion, wenn
sie mir erpresst wird. Vergnügen bereitet
es mir nicht, in diesem Haufen von Schmutz

herumzuwühlen, alles herauszusuchen und
wieder so zusammenzulegen, wie die Zeit
es auf diesen Schmutzhaufen geworfen hat.
Ich fürchte sogar, dass ich dabei meiner
Geduld zuviel zumute. Es kann sein, dass
ich mit meinem Material und all dem
Schmutz kurzen Prozess mache und heraus-
greife, was mir in die Finger kommt. Es
mag dabei sogar einiges Durcheinander
geben. Und es ist möglich, dass mir da der
trockene Anfang und dort das überflüssige
Ende fehlt. Aber alles wird sich zu einem
Bild zusammenfügen, und Sie, Herr West-
heim, werden sogar erfahren, warum dieses
Bild Ihren Namen tragen soll. Denn, wer
in Deutschland weiss es nicht, dass Sie, Herr
Westheim.

„Er war ein Jüngling der Urleidenschaft;
er war durchaus nicht interessiert an der
äusseren Verkörperung der Natur. Er war
die Urkraft und er sah die Entladung
menschlicher Leidenschaften im Wehen des
Windes, im Licht und Wasser, in dem
Flammen der Erde. Mehr als ihren Zauber
fühlte er den Schrecken der Schönheit und
dem übergab er sich. Sein eigenes Leben
muss eine Flucht vor sich selbst gewesen sein.
Ein Sonderling, der durch das Leben trieb,
auf dieser Erde, aber nicht von dieser Erde.
Niemals verwirrt, aber oft unglücklich, das
Feuer seiner Begeisterung mit seiner
eignen Leidenschaft für Natur nährend.
Das Heimweh befreite seinen Geist auf die
einzig mögliche Weise: durch künstlerische
Expression. Er war ein Mann über seiner
Zeit, der allein ging und dennoch Freunde
hatte. Ein Mann, den Deutschland glaubte
verschwenden zu können, vielleicht deshalb,
weil er eine russische Seele hatte. Sein Tod
bedeutet für Deutschland einen grösseren
Verlust, als Charles Peguy für Frankreich."
Dieser Mann war keiner von denen, die das
Volk der Dichter und Denker für Dichter
und Denker hält. Dieser Mann war Au-
gust Stramm, der bis zum Frühjahr 1914
zwanzig Jahre lang seine Dichtungen an
die Zeitungen und Zeitschriften des Dichter-
und Denkervolks gesandt hatte. Das Dichter-
volk sandte ihm die Dichtungen zurück.
Ich habe nie vernommen, dass einer der
Kulturverbrecher sich vor Gram und Schande
freiwillig aus der Welt entfernt hätte. Wohl
ist ihnen ja nicht bei ihrer täglichen Ver-

10t
 
Annotationen